Wie magisch ist countdown50? Eine phantastische Erzählung!

Ja, ich möchte etwas erzählen. Weil ich gerne erzähle. Und das mache ich unter anderem auf countdown50.net. Es war 2013. Damals wollte ich an jedem der 175 Tage vor meinem 50.Geburtstag davon sprechen, wie es mir in dieser Zeit erging. Spontan sollten diese kleinen Texte sein. Nichts weiter sollte ihnen zukommen, als mit einfachen Worten und in aller Kürze die in meinem Kopf vagabundierenden Gedanken zu schildern. Solche, die zwar hinters Tagewerk zurückwichen, aber niemals ganz verschwanden.

Klaus Wirth, Autor der Erzählung auf countdown50
Kein besonders schönes Foto von mir aus 2017. Es ist bearbeitet, die Lichtpunkte habe ich hinzugefügt.

Dann waren da noch diese plötzlichen Bilder, die launenhaft und drohend hier auftauchten, um dort wieder zu versinken. Die mich wie ein vom Himmel fahrender Blitz ängstigten, verstörten und trieben. Vielleicht verflogen die Tage wegen dieser Gedanken so schnell. Der 50.Geburtstag war bald erreicht. Danach? Was sollte aus countdown50.net werden?

An einem düster-trüben Morgen im November wachte ich auf und hatte eine Idee. Aus countdown50.net könnte eine Erzählung werden. Zumal ein Blog immer schon eine gestückelte Erzählung ist. Natürlich sollte die Erzählung nicht völlig losgelöst von meiner eigenen Biografie und der persönlichen Erfahrung entstehen, aber auch nicht sklavisch daran gebunden sein. Genügend Freiheit für Phantasie soll übrig bleiben. Schließlich verbindet eine Phantasie die Wirklichkeit mit dem Vorgestellten und vereint beide zu Neuem, in dem sich die Magie des Erzählens verbirgt.

Eine Phantasie von countdown50.net erhebt die Erzähl-Figuren selbst zu Autor:innen, während das Autor-Ich als ihre Schreibkraft funktioniert. Tatsächlich stammen alle Texte von mir. Gleichwohl stelle ich mir beim Schreiben vor, ich sei die Figur. Manchmal denke und fühle ich während das Schreibens wie Fetthans Pirmasens, Svetlana, Hunde-Tommy, Theophil Meisterberg, Ester Berlin oder Claude Otisse.

Die Bildnisse meiner Held:innen als Comic-Figuren dienen nicht etwa der Absicht, mich hinter ihnen zu verstecken. Vielmehr soll die bildhafte Illustration die Charakter-Eigenschaften unterstreichen. Fotos und Grafiken sind ausnahmslos meine Werke, auch wenn eine der Figuren ihr fiktives Urheberrecht vermerkt haben sollte.

Jede Figur entwickelt ihren eigenständigen Sprachstil, sachlich, brutal, poetisch, einfühlsam. Sie lassen ihre höchst persönliche Sicht auf die Ereignisse und Erfahrungen, ihr jeweils unverwechselbares Weltverhältnis erkennen, werden durch und in ihrer Sprache lebendig. So wie jeder mir näher stehende Mensch in meiner Seele wohnt, finden die Figuren ebenfalls ihr Zuhause.

Es kommt sogar vor, dass ich mit den Figuren spreche, verhandle, ja streite. Ich führe dann regelrechte Dialoge, die bisweilen vernehmlich werden, wenn ich mich unbeobachtet wähne. Hört jemand zufällig von mir unbemerkt zu, etwa wenn ich einen Kaffee vom Automaten zapfe, kommt die spöttische Frage: „Wie viele seit ihr denn heute? Haben Sie wieder unsichtbaren Besuch?“

Klaus Wirth: Autobiografisches auf countdown50.net

Wollte ich aus meinem wirklichen Leben erzählen, wäre sicher die Auseinandersetzung mit dem Glauben an Gott einer der stärksten Erzählstränge. Schließlich studierte ich in den 1980er Jahren Evangelische Theologie, brach aber ab, weil die inneren Konflikte und Zweifel zu stark wurden. Außerdem litt ich schon damals unter schweren Depressionen und war stark dem Alkohol zugeneigt. Da lag es nahe, mindestens eine Figur zu erschaffen, die ebenfalls mit biografischen Brüchen und neurotischen Störungen geschlagen ist, die Niederlagen hinnehmen musste und in ähnliche Konflikte verstrickt ist wie ich.

Herausgekommen ist zu zuallererst der hausierende Pfarrer Theophil Meisterberg. Weil eine Figur erst dann lebendig wird, wenn sie mit mindestens einer weiteren in eine Beziehung tritt, stellte ich dem Theophil den Journalisten Claude Otisse zur Seite. Auch bei Otisse finden sich Ähnlichkeiten zu meinen eigenen Lebenslauf.

Nach einer Ausbildung zum Versicherungsfachmann wagte ich Ende der 1990er Jahre den Quereinstieg in den Journalismus. Ein paar Jahre arbeitete ich bei einer großen Tageszeitung, bis sie mir wegen „politischer und persönlicher Unzuverlässigkeit“ kündigten. Die Erzähl-Figur Claude Otisse hat den gleichen Beruf gewählt. Doch bei Otisse könnte durchaus der Eindruck entstehen, Journalismus sei eine Krankheit. In der Erzählung verachtet er diesen Beruf, übt ihn aber trotzdem wenigstens sporadisch aus.

Allerdings bleiben die Parallelen zwischen mir und meinen Figuren zwar wahrnehmbar, aber doch begrenzt. Die Linien berühren sich an verschiedenen Stellen, laufen dann aber wieder auseinander. Weder bin ich wie Theophil Meisterberg in die Obdachlosigkeit abgerutscht, noch bin ich durchgeknallt wie Claude Otisse und Hunde-Tommy.

Ich hatte bisher einfach nur Glück. Allerdings: In gefestigten Verhältnissen lebe auch ich nicht. Das heißt: Der Luxus, ein schützendes Dach über dem Kopf haben und eine tägliche Mahlzeit genießen zu dürfen, kann morgen schon vorbei sein. Jeden Tag rechne ich damit, dass sie mich vertreiben, mich anklagen und verurteilen. In den Augen der Gesellschaft bin ich geblieben, was ich für sie immer war: Ein asozialer Außenseiter, Dreck, Menschenmüll, Abschaum. Ein Rechtloser, mit dem man nach beliebiger Willkür verfahren darf.

Ich wohne in keiner festen Behausung, habe keine Familie und gehe keiner geregelten Tätigkeit nach. Manche Leser:in mag jetzt denken: „Ach, wie langweilig!“ Somit teile ich mit den Figuren die schmerzhafte Erfahrung von Zerbrechlichkeit und von immer wiederkehrenden Verlusten. Womit ich wieder bei grundlegenden Themen von countdown50.net angekommen bin: Würde, Gerechtigkeit, Freiheit und ihr Anderes, ihr Gegenstück: Verlust, Willkür, Erniedrigung.

Das Altern ist ein unleugbares Zeichen der Vergänglichkeit. Die Verluste von Beweglichkeit, geistigen und sozialen Fähigkeiten sind so unausweichlich wie sie verdrängt werden. Mal setzen die Verluste früher ein, mal später. Nicht selten werden das Nachlassen des persönlichen Könnens und die erforderliche Hilfe fremder Menschen als tiefe Kränkung empfunden. Ängste, Depression und Bitterkeit können die Folge sein. Zumal keine Aussicht auf Besserung besteht. Die Zukunft des Alters ist nun mal das noch höhere Alter. Mit 58 Jahren ist genau dieses meine Perspektive. Die Zukunft ist keine gute Verheißung.

Göttliche Verheißung gegen menschliche Vernunft

Gibt es einen Ausweg aus der Tragödie des Alterns? Die Biologie kennt keinen. Die Medizin laboriert an den Symptomen herum. Was für eine Magie! Allerlei Salben, Tinkturen und Pillen sollen die immer währende Jugend herbei zaubern. Der Zauber wirkt nicht. Aber da ist noch ein ganz altes Versprechen. Die Verheißungen des christlichen Glaubens. Der nämlich behauptet, Vergänglichkeit, Leiden und Tod könnten überwunden werden.

Die Verheißung gewährt eine letzte Hoffnung auf das ewige Leben im Reich Gottes. Vor dem Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaft wirken religiöse Verheißungen geradezu irrational, gleichsam verrückt und die harte Realität in einem willfährigen Wahn verleugnend. Glaube gehört in die Sphäre der Metaphysik, dem ersten Wissen, dem mit Logik nicht beizukommen ist. Träfe diese Heilserwartung trotzdem ein, so hieße sie ein Wunder. Die Gesetze der Natur wären außer Kraft gesetzt. Mir war es bisher nicht vergönnt, diesen Widerspruch im Geiste zu überwinden, geschweige denn ein Wunder zu erleben.

Eben dieses seit Jahrtausenden ersehnte Wunder widerfährt den Heldinnen von countdown50.net. Gott erscheint ihnen als Frauengestalt und erklärt die bisher sozial deklassierten Bewohnerinnen der Pirmasenser Kolonie zu ihren Auserwählten. Mehr noch, sie sollen künftig das Gottesreich verwalten. Das Wunder sollte eigentlich ein Grund zu ekstatischer Freude sein, voller Lobpreis und Engelsgesänge. Aber genau diese Aufgabe wird von meinen Figuren mehr als Last denn als Segen angenommen.

Sogar das glänzende Bewusstsein, nunmehr zu den Auserwählten zu gehören, lindert keineswegs ihre mitgebrachten Ängste und Deformationen. So kommt es, dass in dieser Erzählung ist, was schon immer gewesen ist, und nicht ist, was nicht gewesen ist. Wer sich zum Wurm macht, darf sich nicht wundern, wenn er mit Füßen getreten wird, sagte ein gewisser Immanuel Kant. Diese hier, meine Figuren, hatten sich selbst zum Würmern gemacht. Wenn sie sich selbst erniedrigen und ihrer Würde beraubten, wie sollten sie jetzt in der Lage sein, die Würde anderer Menschen anzuerkennen und zu bewahren?

Ihre Gott sagt nicht viel, spart und geizt mit Geboten und Verboten. Es ist dieser Mangel an göttlicher Führung, der die Held:innen auf ihr eigenes Urteilsvermögen zurückwirft. So geraten sie in eine dauernde Spannung zwischen der Welt der Auserwählten und der Welt der Verworfenen. Letztere ist die Welt wie wir sie aus dem Alltag kennen. Soziale Gegensätze, Armut, politische Umwälzungen, die unheimliche Macht der Konzerne, drohende Umweltkatastrophen und das Gefühl der Ohnmacht lösen bei vielen Mitmenschen die Erwartung des nahenden Untergangs aus.

In der Erzählung auf countdown50 sind die verworfene Welt und das Reich Gottes getrennte Lebenswelten. Dennoch gibt es die eine nur deshalb, weil es die andere gibt. Sie bedingen sich gegenseitig, können nur durch den Unterschied können die Welten voneinander unterschieden werden. So wie Helligkeit erst durch die Finsternis erkennbar wird. Warum die einen von Gott auserwählt werden und andere verworfen sind, weiß keine meiner Figuren. Die Gründe von Gottes Handeln bleiben ihnen verborgen.

Aber nicht nur warum, sondern auch was sich ereignet und wie Dinge geschehen, bleibt für sie weitgehend im Dunkel der Unkenntnis. Lediglich ein kleiner Spalt öffnet sich bisweilen. Aber nur so weit wie es der persönliche Blickwinkel und die Befindlichkeit zulassen. Damit sind die Held:innen zwar auserwählt, aber den Bedingungen der menschlichen Existenz keineswegs entrückt. Sie müssen sich in ihrer Welt bewähren.


Ein bewegtes Foto: Implosion

Implosion. Animation, Klaus Wirth, 2021

Klaus Wirth

Klaus Wirth ist ein pfälzischer Autor, Journalist und Fotograf. Er behauptet, die Pirmasenser Kolonie der Auserwählten als Thema einer Erzählung erfunden zu haben. Doch die Kolonie sieht sich falsch dargestellt und widerspricht Klaus Wirth.