100 Pirmasens-Schränkchen
Svetlana ist schon wieder da. Besser gesagt, sie sitzt unter ihrer roten Billigperücke neben unserem neuen Pirmasens-Schränkchen. Dort ist eigentlich reserviert für Mitglieder der Geistlichen Hütte. Weil das Pirmasens-Schränkchen unter den Schränkchen dieser Welt ein ganz besonderes ist. Aber auch deshalb, weil Bewerberinnen nur auf einem bestimmten Stuhl sitzen sollen. Denn: Wer in die Pirmasenser Kolonie aufgenommen werden will, muss selbstverständlich deren Ordnung respektieren.
Jedoch bricht Svetlana diese Regel gleich beim ersten Bewerberinnengespräch. Damit begeht sie einen Fehler. Einen Fauxpas, den Tritt ins Fettnäpfchen. Sie handelt sich damit einen dicken Minuspunkt ein. Deswegen fordere ich Svetlana auf, doch den von mir angewiesenen Stuhl zu nehmen.
Springe zu einem Abschnitt:
Svetlanas monströse Wut
Zwar folgt Svetlana äußerlich gesehen meiner Anweisung. Aber ihr Widerwille schleudert mir stille, aber gewalttätige Flüche entgegen. Ihre hasserfüllten Blicke machen mir Angst. Körperhaltung, Gesten und Minenspiel verraten mir den tiefen Unfrieden dieser Menschenseele. Genauso, als hätte vor langer Zeit eine monströse Wut von Svetlana Besitz ergriffen. So, als hätte die Wut nach und nach jede Zelle ihres Körpers einem Krebsgeschwür gleich in eine Armee von Todesbringern verwandelt. Eine zelluläre Substanz aus reinem Hass sitzt mir gegenüber.
Obwohl meine unguten Gefühle zum Abbruch des Gespräches mit Svetlana drängen, nehme ich meinen Platz auf der Bank neben dem Pirmasens-Schränkchen am Eichentisch ein. Jetzt, mir gegenüber sitzend, weichen ihre Blicke den meinen aus. Rasend, stechend und voller Vernichtungswille fixieren Svetlanas Augen unser buntes Pirmasens-Schränkchen.
Sklavenarbeit für das Pirmasens-Schränkchen?
Und wieder bricht Svetlana eine Regel. Ehe ich mit paar Worten das Bewerberinnengespräch eröffnen kann, fällt sie mir in den zwar gebildeten, aber unausgesprochenen Satz. „Warum habt ihr das Ding gekauft? Niemand kämpft gegen den Kapitalismus, wenn er sein Geld zu Sklavenhaltern trägt!“
Zuerst verletzt mich dieser Vorwurf. Er ist so falsch wie ungerecht. Daher frage ich Svetlana, warum sie annimmt, wir unterstützten profitgierige Unternehmer. Sie antwortet: „Ihr habt das Schränkchen bei dem fetten Kapitalistenschwein in der Stadt gekauft. Der ganze Schlossplatz war voll mit diesen Schränkchen. Während der dreckige Möbelhändler im feinen Anzug umher spazierte, schuftete sein afrikanischer Lohnsklave zwischen den Schränkchen.“
Da ich plötzlich lauthals lache und den Versuch, das Lachen zu unterdrücken aufgebe, breche ich jetzt die Regeln. Ich stehe auf, streiche mit der Hand liebevoll über das Pirmasens-Schränkchen. Dabei bekomme wegen des krampfenden Zwerchfells kaum noch Luft. „Ha ha ha!“
Svetlana: Kapitalisten sind Scheiße auf zwei Beinen
„Warum lachen Sie so blöd?“ Svetlana erhebt sich ebenfalls von ihrem Stuhl und schlägt mit beiden Händen klatschend auf den Eichentisch. „Während Ihr das Kapitalistenschwein reich macht, wollten wir den genetischen Abfallhaufen überfallen. Wäre das Stück Scheiße auf zwei Beinen dabei drauf gegangen – auch egal!“
Was für ein furchtbarer Irrtum! Aber vielleicht kommt der daher, dass Svetlana mit ihren Genossinnen seit mehr als 30 Jahren im Untergrund lebt. Dabei muss das Weltbild dieser anti-imperialistischen Kriegerinnen mit der Zeit wohl doch recht einseitig und eng geworden sein. Was für ein schmaler Horizont! Ob Svetlana geistig wirklich zu beschränkt ist, dass sie nicht versteht, was es mit den Pirmasens-Schränkchen tatsächlich auf sich hat? Das wird sich jetzt gleich zeigen.
Entlarvt: Rassismus der Linksaktivisten
Denn der vermeintliche fette Kapitalist ist in Wahrheit ein Helfer. Der verkleidet sich und mimt beim Verkauf den Landgraf Ludwig IX., also den Stadtgründer von Pirmasens. Ein Werbegag, ein bisschen Geschichts-Folklore, die die Käufer animieren soll. Chef der Unternehmung ist allerdings der Afrikaner.
Die Republik zählt Delume zu den so genannten ausreisepflichtigen Asylbewerbern. Deswegen verstecken wir ihn samt Verwandten und Freunden bei uns in der Kolonie. Obgleich er die kleine Manufaktur gründete und die Idee zum Pirmasens-Schränkchen hatte, bezeichnet ihn Svetlana jetzt als Arbeitssklaven.
Indem sie den Schränkchen-Verkauf so wahrnimmt, offenbart die Antikapitalistin aus dem Untergrund ihre vollkommen erstarrte Denkweise. Mehr noch: Mir erscheint Svetlana als überzeugte Rassistin. Zumindest ist sie offenbar nicht in der Lage, eine andere als die ihr gewohnte Rollenverteilung zu erkennen. Ich kläre die alternde Aktivistin über ihren Irrtum auf. Danach wirkt Svetlana niedergeschlagen. Ja, fast schüchtern und traurig lässt sich die große, ungepflegte Frau wieder auf dem Stuhl am Eichentisch nieder.
Kreditkarten bringen den Untergrund in Schwierigkeiten
Warum wollen die Untergrundleute ausgerechnet unseren kleinen Schränkchen-Verkauf auf dem Schlossplatz überfallen? So langsam dämmern mir andere Motive als der antiimperialistische Kampf. Also frage ich Svetlana: „Braucht ihr Geld?“
Ihre Antwort fällt unerwartet ehrlich aus. „Ja. wir brauchen dringend Geld. Das Leben im Untergrund ist teuer. Wir sind ständig unterwegs. Immerzu andere Unterkünfte. Oft sind es Ferienwohnungen. Dasselbe bei den Autos. Immer müssen neue her. Dazu wechseln wir häufig die Identitäten. Neue Kleider, Perücken und Papiere. Das kostet eben. Weil wir keine Kreditkarte bekommen wie normale Leute, sind wir auf Bargeld angewiesen. Aber die Überfälle lohnen sich nicht mehr wie früher. Einmal hatten wir eine Million Mark erbeutet. Das Geld reichte uns für ein paar Jahre. Doch heute müssen wir von Kleckerlesbeträgen leben. Aus einem Überfall bekommen wir mit etwas Glück zwei- oder dreitausend Euro. Jedoch sind es meistens nur ein paar hundert.“
Seit die Kreditkarten das Bargeld überflüssig machten, hat es der Untergrund schwer. Diese Leute sind kaum noch in der Lage, sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Geldtransporte sind besser gesichert als früher. Händler und Banken haben kaum noch Scheine und Münzen in der Kasse. Da gibt es nichts mehr zu holen. Wieder frage ich Svetlana: „Sind sie müde vom Kampf?“
Warum Svetlana noch eine Chance bekommt
„Ja. Ich bin müde. Und es war falsch. Alles was ich gemacht habe!“ Dieses Bekenntnis lässt mich nun an meiner Entscheidung zweifeln. Wäre Svetlana bei ihrer aggressiven Haltung geblieben, hätte ich sie ablehnen müssen. Aber so bekommt sie noch eine Chance. Weil Gottes Liebe versöhnt und kranke Seelen zu heilen in der Lage ist. Also vereinbare ich einen weiteren Termin mit ihr. Danach wird der Kolonierat über Svetlana entscheiden.
Bericht: Fetthans Pirmasens
Digitales Bild: Claude Otisse