Mann mit Hut oder die Suche nach einem Wissenden
Kaum bin ich nach dem Besuch bei Fetthans wieder draußen auf der Straße, ist der Mann mit Hut auch schon verschwunden. Dabei habe ich ihn gerade eben durchs Fenster noch gesehen. Ja, jetzt ich suche den Mann mit Hut. Ich würde ihn gerne kennenlernen. Einmal mit ihm reden, nur kurz sprechen mit dem Mann mit Hut, von dem Fetthans sagt, er wisse alle Geheimnisse. So viele Fragen habe ich zu stellen, so viel Dunkelheit zu erhellen, dass ich den Mann mit Hut jetzt dringend brauche.
Denn Antworten finde ich schon lange keine mehr. Schaue ich in die Welt hinaus, stellt sie mir nur Rätsel über Rätsel. Die gehörten Worte sind zu groß, die gesehenen Dinge viel zu mächtig, die Taten der Menschen viel zu schrecklich, als dass ich sie verstehen könnte. Immer wieder aufs Neue erkläre ich mir das Unerklärliche selbst. Ich versuche, mit den Möglichkeiten meines Verstandes eine Ordnung, einen Sinn darin zu sehen. Dieser Versuch formt Worte, Sätze und malt Bilder, denen ich gerne glauben mag.
Aber schon am nächsten Morgen verkehrt sich das gestern noch als wahr und richtig Gemeinte ins Gegenteil. Und wieder beginnt die Qual der splitternden Gedankenfetzen. Da sind der Tisch, der Stuhl, das Bett, die Flasche und die Zigaretten. So vertraut erscheinen mir diese Gegenstände, dass sie mich für einen Moment mit ihrer eigenen Wahrheit trösten, halten, fest umarmen. Doch sie entgleiten mir, und ich entgleite den Gegenständen. Die Verbindung bricht vollends entzwei beim Öffnen der Tür mit dem ersten Schritt hinaus.
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Der Mann mit Hut bleibt verschwunden
Wo ist der Mann mit Hut? Vor einer Minute war er noch da. Durch Fetthans‘ Fenster konnte ich ihn sehen, wie er die Straße hinunter ging. Also folge ich seiner Richtung, gehe wie er die Straße hinunter bis zur nächsten Ecke. Da ist er nicht. Gegenüber sehe ich ihn auch nicht. Wo ist er hin? Ist er in ein Loch gefallen? Es wäre möglich, dass jemand unter dem Pfad in der Grünanlage über Nacht einen tiefes Loch gegraben hat. Mit einer Pappe und etwas Erde und feinem Schotter darüber, könnte der eiligen Schrittes gehende Mann mit Hut die Falle übersehen haben.
Ist ihm dieses Unglück widerfahren, liegt er jetzt, während ich ihn suche, gefangen und verletzt in der feuchten Erde. Deswegen kann ich ihn nicht einmal in der Ferne sehen. Womöglich sind sie schon gekommen und erschlagen ihn in diesem Augenblick mit dicken Knüppeln. Sie werden ihn hassen, weil er ein Wissender ist. Sie werden ihn töten, weil er sie durchschaut und ihre Niedertracht erkennt.
Diese hier sind das Gift in der Heimat und die Tücke im Heim der Liebenden. Obwohl der Frühling noch immer in der Kälte des Winters erstickt, beginne ich unter meiner Vorstellung zu schwitzen. Autos rasen um mich her, sie zerbrüllen, ersticken, vergiften, zerdrücken das Leben zwischen ihren Kolben und unter ihren Rädern. Ihr schwefeliger Gestank des Bösen vertreibt die Liebe und lässt die Zuversicht in Angst erfrieren. Am Steuer sitzt des Feindes kalte Seele.
Die Frau vor dem eisernen Tor
Ich drehe mich und sehe mich um. Nur wenige Meter Hinter mir tritt eine Frau aus einem weiß getünchten Haus vor ein eisernes Tor. Sie hält etwas in der Hand und starrt mich an. Vielleicht hat sie den Mann mit Hut in die Falle gelockt? Ich will vorsichtig sein, um nicht selbst hinweg gerissen zu werden. Ihr Blick krallt sich in mir fest, lässt mich nicht mehr los. Ich sehe zum Boden, dem grauen, rissigen Asphalt, dann über die Fahrbahn zur steinernen Wand. Aber die Flucht gelingt mir nicht. Es gibt kein Entkommen mehr.
So füge ich mich ins Unausweichliche und bleibe stehen. Die Frau verlässt ihre Stellung vor dem eisernen Tor und schreitet heran. Sie kommt mir ganz nahe, baut ihren mageren Körper vor dem meinen auf, reckt die Schultern nach hinten und streckt den Kopf bedrohlich in die Höhe, plustert sich auf wie ein Vogel, damit sie Macht über mich gewinnt. Auch mit ihrer Frage will sie mich unterwerfen: „Suchen sie jemanden?“ Ich zögere. Warum sollte ich dieser Person antworten? Ich bin ihr nichts schuldig. Schon gar keine Antwort. Dennoch verwerfe ich diese Gedanken und sage in ihr Gesicht: „Ich suche den Mann mit Hut!“
Die dünne Frau entspannt sich wie ein Soldat unter dem Befehl: „Rühren!“ Sie steht jetzt locker, bewegt den Kopf und die Arme, stellt ihre Tasche neben die Füße auf den Boden. Dann sieht sich mich mit einem überraschend freundlichen Lächeln an: „Der Mann mit Hut, der eben hier gegangen ist, den meinst du?“ Ich nicke, will gleich etwas sagen, doch sie kommt mir zuvor. „Der Mann mit Hut wohnt bei mir im Haus. Er ist ein guter Mensch, ein Wissender. Was willst du von ihm?“
Bericht aus Pirmasens: Claude Otisse – Fortsetzung folgt.