Der Reisende: Theophil begegnet dem Tod
Der Reisende ist nicht in diesem Zug. Nun liegt der Bahnhof menschenleer und verlassen vor uns. Dennoch bleiben wir noch eine Viertelstunde. Für den Fall, dass der reisende Bekannte eine Bahn früher genommen hat. Dann könnte er uns jetzt doch noch hier treffen. Aber alles Warten ist vergeblich. Der Reisende kommt nicht. Doch was dann geschieht, lässt meine fürchterlichsten Albträume sofort verblassen. An Stelle des erwarteten Besuchers tippt ein völlig unerwarteter Gast auf Pfarrer Meisterbergs Schulter. Es ist kein geringerer als der Tod. Darauf ist Theophil nun gar nicht vorbereitet. Gerede eben, in diesem Augenblick als der Tod kommt, studiert er aufmerksam den Innenstadtplan von Pirmasens.
Springe zu einem Abschnitt:
Der reisende Tod zeigt sein Gesicht
Während sich der Pfarrer über den Verbleib unseres Besuchers sorgt, eilte der Tod unbemerkt aus finsteren Ecken und Winkeln herbei wie ein unerwarteter Reisender. Oder ist es in Wahrheit unsere Wahrnehmung, welche den Tod vor uns versteckt, weil wir ihn ausblenden? Obwohl der Tod immer gegenwärtig ist. Jedenfalls erschrickt Theophil bis in die tiefste Tiefe seiner Menschenseele. Doch nach dem Schock spricht er so, als wäre der Tod ein vertrauter Bekannter, als wäre er der Reisende, auf den wir warten. Was für ein verrücktes Schauspiel! Welch ein irrer Dialog!
Theophil schlägt dem Tod einen Handel vor
Theophil: „Was wollen Sie von mir? Ich bin doch erst Mitte 50?“
Tod: „Was glaubst Du, Theophil Meisterberg? Was könnte ich denn von Dir wollen?“Theophil: „Aber das ist doch noch nicht die richtige Zeit. Schließlich habe ich noch so viele Aufgaben zu erledigen. Gerade eben bin ich in der Pirmasenser Kolonie angekommen. Bevor wir das Reich Gottes auf den Weg gebracht haben, kann und darf ich nicht mit Ihnen gehen, Herr Tod.“
Tod: „Bloß dass mir das völlig egal ist, was Du darfst, willst und kannst. Ich bin der Tod und nehme Dir jetzt das Leben. So ist nun mal meine Aufgabe. Weil ich Dein Leben liebe und alle anderen Leben auch, will ich sie haben. Alle. Wann und wo ich wessen Leben abhole, entscheide ich.“
Theophil: „Aber worumwillen wollen Sie mich jetzt schon holen, Herr Tod? Ist es meine Säuferleber, habe ich Lungenkrebs vom Rauchen? Obendrein werden die vielen Jahre als Hausierer und Obdachloser ihre Spuren hinterlassen haben. All der Stress – bekomme ich einen Herzinfarkt? “
Tod: „Nein, das ist es gewiss nicht, mein lieber Theophil. Ganz und gar nicht. Denn weder bin ich ein Gesundheitsapostel noch ein Moralist. Sowie mich Deine Lebensweise nicht interessiert, scheren mich in keiner Weise Dein Alter, Religion und Politik. Einzig meine Bilanz muss am Monatsende stimmen. Es wird sich die passende Krankheit für Dich finden.“
Das Unerklärliche erklären
Theophil: „Warum tippen Sie ausgerechnet hier und jetzt mir auf die Schulter und nicht irgend jemand sonst und woanders? Schließlich gibt es sehr viele Alte und Kranke in Pirmasens. Die wären doch bestimmt viel besser für Ihre Bilanz, Herr Tod?“
Tod: „Sobald ich einem Menschen meine Hand auf die Schulter lege, soll ich ihm eine Erklärung geben. Dabei gibt es keine Erklärung. Dessen ungeachtet, Du würdest eine mögliche Erklärung nicht verstehen. So es sie denn gäbe. Also, Theophil. Du musst dich damit abfinden. Ich liefere Dir weder für den Ursprung des Lebens noch für dessen Ende eine schlüssige Theorie noch sonst irgendwelche Gründe. Such‘ Dir etwas aus, damit Du ruhiger wirst. Krankheit, Gottes Ratschluss, Genetik – die Menschheit hat sich einen schönen Blumenstrauß an den hohen Hut gebunden. Weil Menschen für alles Gründe haben müssen. Auch wenn sie unergründlich sind.“
Der Tod liebt das Leben
Theophil: „Nun gut, Herr Tod. Nachdem Sie mir Ihre Macht so unverkennbar und überzeugend dargelegt haben, willige ich also ein. Somit füge ich mich ins Unvermeidliche und folge Ihnen. Dennoch möchte ich noch eine einzige Verständnisfrage stellen. Da Sie ihre Monatsbilanz mit Menschenleben füllen wollen – könnte ich Ihnen dabei nicht behilflich sein? Immerhin haben unsere Kämpferinnen in meinem Auftrag kürzlich eine deutsch-nationale Familie zur Strecke gebracht. Also habe ich Ihnen fünf Leben geliefert. Auch künftig könnte ich Ihnen noch mehr Leben liefern als bloß mein eigenes. So wäre ich doch nützlicher für Sie, oder?“
Tod: „Nein, Theophil. Es waren keine fünf Leben, sondern sechs. Soeben hat eine deiner Kämpferinnen den ältesten Sohn der Familie in Hamburg erwischt. Sowie ich höre, war es ein präziser Schuss ins Herz. Im Grunde genommen stimmt es also. Du könntest mich tatsächlich unterstützen. Wenn ich es recht überlege, dann schenke ich dir noch ein paar Tage. Solange ich noch in Pirmasens zu tun habe, darfst du bleiben. Aber ich komme sicher wieder auf dich zu.“
Nach diesen Sätzen lässt der reisende Tod endlich von Theophil ab. Dann entschwindet er in Richtung der Innenstadt von Pirmasens, deren Plan unser Pfarrer studierte, bevor die Schreckensgestalt am Bahnhof in Pirmasens erschien. Wie mag es jetzt weitergehen? Ich bin ratlos im Augenblick.
Bericht: Fetthans
Digitales Bild: Fetthans