Große Verschwörung: Die lügen, alle!
Verschwörung im Land! Hinter jeder Hecke, in jedem Geschäft, in jedem Büro, jeder Fabrik und jedem Haus stecken sie ihre Köpfe zusammen. Sie tuscheln, raunen, flüstern, manche schreien: Die Zeit für den Umsturz ist gekommen. Viele sind sie, die Verschwörer. Sie schwören überall im Dorf und in der Stadt: „Die lügen, alle!“
Verschwörung im Wartezimmer. Meine Luftröhre brennt. Aus der Nase quillt der Schleim. Die Ohren glühen rosé. Derart gequält aus den Träumen erwacht, hebe ich mühsam den Kopf vom Kissen. Da weiß ich es schon. Eine Infekt hat mich ereilt. Oh Schreck! Am Ende ist es die Corona? Sofort zum Arzt. Das Wartezimmer ist gesperrt. Draußen vor der Tür stehen frierende Patientinnen. Der Wind treibt feine Tropfen unter das Revers. Den Mund- Nasenschutz weicht der Regen durch. Ein Mann ruft mich an: „Maske ab! Der Lumpen ist Diktatur: Die lügen, alle!“
Verschwörung im Baumarkt. Zurück in meinem Haus gesellt sich zum grippalen Infekt sogleich ein weiteres Malheur. Es rauscht und plätschert in der Toilette. Wasser fließt, wo es ruhen sollte. Erschrocken sehe ich das Rinnsal ins Nichts verschwinden und denke an die Wasseruhr. Das Rauschen stoppt. Dennoch: Ein neuer Spülkasten muss her. Also muss ich wieder aus dem Haus. Auf einem hohen Regal im Baumarkt finde ich, was ich brauche und hole die Kiste herunter. Ein Verkäufer kommt und nimmt den klappernden Pappkarton von meinen Armen. Mit ernstem Blick zieht er den Aufkleber mit der roten Aufschrift „Bezahlt“ aus der Tasche: „Die haben unser Weihnachtsgeld gekürzt, damit ihre Rendite steigt. Damit daraus nichts wird, verschenke ich die Ware: Die lügen, alle!“
Verschwörung im Hosenladen. Weil ich stark huste, hält der mürbe Stoff meiner alten Jeans der Spannung meiner Bauchmuskeln nicht mehr stand. Der Knopf reißt aus. Die Frau im Hosenladen mustert fachkundig meinen Unterkörper. Mit einem flinkem Griff zieht sie eine neue Jeans aus dem Fach. Passt. Eilig leere ich die Taschen des alten Beinkleids. Rot-Kreuz-Container. 59 statt 99 Euro soll ich zahlen, aber nur, wenn es ohne Kassenzettel geht. Gerne nehme ich den freundlichen Rabatt. Über dem Tresen läuft im Fernsehgerät stumm eine Tagesschau. Die Frau zeigt mit dem Finger: „Die lügen, alle!“
Verschwörung in der Bäckerei. Eine Brezel und zwei Schokohörnchen. Dazu noch ein heißer Kaffee zum Mitnehmen. Viel ist es nicht. Aber das Gebäck reicht fürs kleine Frühstück unterwegs. Im Auto sitzend will ich essen und dabei den Leuten zuschauen. Die Bäckerin schiebt die Tüten auf den Tresen: „Bitte sehr! Alles aus einem einzigen chemischen Pulver gerührt. Grobes Salz und künstliche Kakaocreme: Die lügen, alle!“
Verschwörung an der Bushaltestelle. Noch kneift die neue Jeans im Schritt. Doch bald wird sie sich weiten und mich aus der Pein entlassen. Der Spülkasten rappelt im Karton. Ich stehe, warte, halte kurz inne, wo um die Mittagszeit 50 Schülerinnen lachen, feixen, tanzen. Der Lehrer trägt Bart, Brille und Ledertasche. Der Doktor beginnt zu unterrichten, als sei die Schule noch nicht aus. Die Kinder lauschen seiner Stimme: „Deutschland hat keinen Friedensvertrag. Deutschland hat keine Verfassung. Deutschland hat keine Souveränität. Das Land ist keine Nation, sondern eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Die lügen, alle!“
Verschwörung zwischen den Motoren. Sie stellt ihre Meinung auf dem grauen Parkplatz zur Schau. Wo die Autos unnütz stehen, zeigt diese Frau ihre selbst gemalten Plakate. Orangerote Sätze mahnen, schreien, fluchen. Die Reichen kaufen Politik, damit sie reicher werden. Ein böser Plan der Kinder fressenden Hochfinanz raubt dem Volk die Freiheit. Alle Wagen hupen im Chor zum Widerstand: „Verbrecher, Regierung, Rücktritt: Sie lügen, alle!“
Verschwörung vor dem Arbeitsamt. Da ist was los, da halte ich an. Menschen stehen in der Schlage. Sie warten vor der Tür auf Einlass. Nur wenige dürfen gleichzeitig hinein. Es droht das Coronavirus. Die Leute müssen Vorschriften einhalten. Die Kamera über der gläsernen Tür wacht genau. Die Wartenden halten Abstand und tragen Maske. Ein sportlicher Mann mit grauem Haar tritt aus der Reihe. Er dreht sich zu den anderen: „Dreißig Jahre haben wir in der Fabrik gearbeitet. Jetzt sind wir draußen. Für uns gibt es nichts mehr. Nach zwei Jahren bleibt uns nur Hartz IV. Sie nehmen uns die Ersparnisse und unsere Würde. Sie sagen, wir sind selber Schuld: Die lügen, alle!“
Springe zu einem Abschnitt:
Verschwörung. Auch in meinem Haus?
Kaum bin ich in mein Haus zurückgekehrt, kaum betrete ich die Wohnung, da klopft einer an der Tür. Schon durchs Panzerglas scheint seine Silhouette. Es ist Claude Otisse. Aber was will der hier? Monate lang saß er schweigend in seinem Zimmer. Saufend und rauchend versank er im Gestank seinen verfetteten Egos. Ist er jetzt zu neuem Leben erwacht? So sieht es jedenfalls aus. Wäre dem nicht so, dann hätte er es nicht bis zu meinem Haus geschafft.
Ich drehe mich um und öffne ihm die Tür. „Was willst du?“ Otisse behauptet, er hätte mich in der Kolonie gesucht und er wollte wissen wie es mir geht. Ach ja? Kann das sein? Oder lügt er mal wieder und will in Wahrheit etwas ganz anderes von mir? Die Verschwörung an mich herantragen? Das könnte er wollen. Mich involvieren, hineinziehen in irgendwelche unmoralischen Machenschaften, in den Sog von Gewalt und Lügen, die ihn und Hunde-Tommy zu immer neuen Taten beflügeln.
„Soll ich dir helfen?“, fragt Otisse freundlich und deutet auf den Karton mit dem Spülkasten. Schon eilt er heran, drängt seinen voluminösen Alkoholikerleib an der Wand reibend vorbei, schiebt ihn in die Wohnung. Meine Antwort wartet er nicht ab. Ungefragt betritt Claude Otisse das Bad und betätigt die Spülung meiner Toilette. Sie funktioniert nicht: „Ach ja! Das Ding ist kaputt. Bring‘ mal den Karton, das haben wir gleich.“ Otisse ist ungeduldig, fordert Eile.
„Ich brauche nicht viel. Eine Wasserpumpenzange und ein wenig Dichtband, dann haben wir das Ding gleich dran“, sagt er wissend und wippt ungeduldig mit dem rechten Vorderfuß. So ein arrogantes Arschloch, denke ich mir angesichts seines anmaßenden Auftritts. Aber immerhin, er hat sich umgezogen, und dem Geruch zufolge hat er sich auch schon gewaschen. Es mag doch sein:. Vielleicht ist Claude Otisse wider Erwarten in der Lage, die Verschwörung der Dinge aufzulösen und den neuen Spülkasten zu installieren. Ich reiche ihm den Karton. Dann steige ich in den Keller hinab und hole den Werkzeugkasten herbei.
Claude Otisse repariert den Spülkasten
Aber dann meldet sich mein grippaler Infekt zurück. Das Niesen und der Husten werden stärker und schütteln mich regelrecht. ich ziehe mich von Otisse zurück und lasse ihn alleine im Bad zurück. Auf dem Sofa im Wohnzimmer liegend, höre ich ihn aus der Ferne werkeln. Ab und an flucht er, wenn ihm etwas herunter fällt. Ich träufle die Tropfen in die Nase und lutsche eine Halstablette, lege den Kopf erschöpft auf dem Kissen ab. Im Genick schmerzt es, die Müdigkeit steigt in meine Augen, sie drückt die Lider hinunter.
Ich weiß nicht, waren es Stunden oder nur Minuten, die vergangen waren, bevor mich dieses Rauschen weckte. Claude Otisse stand neben meinem Sofa, beugte sich über mich und sagte: „Hörst du, Fetthans? Die Spülung funktioniert wieder. Ich habe den neuen Kasten installiert und alle Leitungen sind dicht!“ Ich sehe ihn verschwommen als stünde er im kalten Novembernebel, bis ich mir den Schlaf aus den Augen reibe. Jetzt wird seine Gestalt klar. Aber ich rieche ihn nicht. Wirklich, er muss heute Morgen eine Dusche genommen haben, womöglich sogar ein Bad. Oder ist es die Verschwörung meiner verschnupften Nase, die seinen Gestank fern hält?
Dann geht er weg vom Sofa, stellt sich ans Fenster und schaut eine Weile konzentriert hinaus. Seine erdrückende Masse, die Verschwörung der Schwere gegen das Licht, verfinstert grau den Raum. Otisse schmatzt beim Hinausschauen und merkt es nicht mal. „Schau mal, Fetthans, dort läuft der Mann mit Hut!“ Der Mann mit Hut? Wie kann er den erkennen? Woher weiß Otisse von meiner Bekanntschaft mit ihm? Lügen, sind das Lügen? Die große Verschwörung? Lieber bleibe ich liegen. Claude Otisse geht, die Tür fällt leise ins Schloss. Ich schlafe wieder ein, verfalle in fiebrige Träume.
Bericht und Fotos: Fetthans Pirmasens; Redaktion: Svetlana Nextgeneration