Liebe und Camouflage vertragen sich nicht
Camouflage der Seele. Wie vermag ich nur darüber zu reden? Mitgefühl mit Gleichgültigkeit, Freiheit mit Zwang. Liebe ist nur gegen den Hass zu denken. Wer das Erste erkennt, weiß sich das Zweite als Möglichkeit vorzustellen, die das Erste klar und hell beleuchtet. Sodann wird die Entscheidung unumgänglich verlangt.
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Ein Obdach, aber kein Zuhause
Aus dem Urlaub zurück.Vier Wochen mit Erika auf der Sonneninsel. Voller Ruhe, Harmonie und Liebe. Zurück in Claude Otisses Haus, das wohl ein Obdach, aber niemals ein Zuhause sein kann. Jedenfalls nicht für mich. Aber wahrscheinlich auch nicht für irgendeinen Menschen. Am wenigsten für Otisse selbst, der in seiner Bücherhöhle haust. So als gehörten die Stimmen vor der Tür den Häschern, die gekommen sind, ihn auszutreiben, ihn aus dem Land, vielleicht sogar aus der Welt zu jagen. Aber noch zögern sie.
Ein Zuhause ist beständig und von Dauer. Es ist vertraut und des Vertrauens würdig in Geborgenheit. Ein Zuhause ist der Vorläufigkeit entrissen. So lädt es den Reisenden zur Heimkehr ein. Doch dieses hier ist ein Asyl der Flucht. Der schnelle Unterschlupf eines Heimatlosen, dessen Wahl stets auf das Zweite fällt, nie aufs Erste. Ein Drittes gibt es nicht. Otisse lebt in der Oder-Zeit. Er kennt kein Und.
Dieser heimatlos Vertriebene meidet die Nähe eines jeden aus der tiefen Furcht heraus, es könnte ihm ein als Freund getarnter Feind begegnen, der heiter lächelnd die Waffe zieht. Sobald ihm dieser Mensch nur nahe genug kommt, phantasiert Otisse, dieser würde ihn bestenfalls vertreiben, schlimmer quälen, foltern, ihn letztlich ermorden, gleichsam in der Umarmung mit dem Dolch erstechen.
Auf Ewig im Feindesland
Eine Welt, in der ein freundliches Lächeln, eine zugewandte Geste, ein Freundschaftsangebot und noch viel mehr eine Liebeserklärung als Camouflage des Bösen erscheint. Otisses Welt kann niemals ein Zuhause sein. Sie darf es für ihn nie werden. Claude Otisse bleibt auf ewig Feindesland.
Weil Claude Otisse ein Mensch und als solcher ein Naturwesen ist, treiben ihn Hunger, Durst und das Bedürfnis nach physikalischer Wärme hinaus. Einzig nach dieser Art erzwingt der schiere Überlebenswille die Feindberührung, um den Widersachern das Nötigste abzuringen.
Die Camouflage des Claude Otisse
In seiner Bücherhöhle rüstet sich Otisse für das Gefecht mit der unbedingten, um jedes Gefühl bereinigten Befehlen Tarnung des Journalisten die feindlichen Stellungen aufzuklären. Das ist seine Camouflage. Die gewonnene Information will er gegen das Gewollte tauschen.
Der Schild aus zwingenden Regeln des Allgemeinen, dem Diktat der Moral und der Gesetze hält die inneren wie die äußeren Feinde so weit auf Distanz, dass sie ihm nicht gefährlich werden können. Folglich ist er überall dabei, gehört jedoch nirgends dazu. Claude Otisse bleibt stets unverbindlich unverbunden.
Wie alle, die guten Glaubens sind, auf das Gute hoffen, hoffte ich noch vor Weihnachten auf einen Waffenstillstand zwischen der Welt und Otisse. Sogar der Friedensschluss schien mir greifbar nahe. Eine Hoffnung die sich aus Zeichen seiner Zuneigung für Annette ernährte. Die Liebe für einen einzelnen Menschen vermag das Vertrauen in die Menschheit zu begründen. Dennoch war das Unterfangen zum Scheitern verurteilt.
Das Diktat der Angst zerschlagen
Diese Hoffnung auf das Ende der Diktatur der Angst hat er nun zerschlagen. Claude Otisse gebraucht die Pflichten des Rechts und der Moral weiterhin als Barrikade, hinter der er sich so scheu verbirgt. Dabei war es gerade Kant, dessen kategorischer Imperativ die vernünftige Grundlage des menschlichen Miteinanders schaffen wollte. Als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Worauf sich Otisse beruft. allerdings ist mir ist kein Vernunftgesetz bekannt, das dem Menschen das persönliche Glück verbieten wollte.
Fragen über Fragen brennen in der Kehle wie der Zug aus der Tabasco-Flasche. Fragen die ich Otisse stellen werde, stellen muss, wenn ich Auskunft über die Gründe seines Handelns erreichen will. Warum weist er diese Frau so brüsk zurück, obwohl er sie doch liebt? Warum entzieht er ihr das Vertrauen? Warum spricht er nicht mit ihr darüber, wie sie ihr Leben gestalten können?
Aber auch da bleibt mir nur die Hoffnung, dass er sich auf die Fragen einlässt und mich nicht genauso abweist wie Annette. Denn Freundschaft ist nicht an Geschlechter gebunden. Freundschaft ist universell. Sie verträgt keine Camouflage.
Theophil Meisterberg