Die geheimnisvolle Bewerbung aus Berlin
Als ich diese Bewerbung dem Zufall nach aus dem großen Berg Papier auf dem Eichentisch der Geistlichen Hütte fischte, wusste ich noch nicht, was dieser Griff bedeuten würde. Nach dem Schnitt mit dem Brieföffner fallen mir zwei von Hand beschriftete Papierbögen zwei Fotos entgegen. „Oh, was ist denn das? Ein Abzug?“, fragt Lukas und bestaunt das Bild einer dunkelhäutigen Frau mit langem, dunklen Haar. Aber ja. Tatsächlich! Diese Fotos stammen nicht aus einem Drucker.
„Das hier sind echte Fotografien. Papierabzüge vom Negativ!“ Trotz der großen Zahl an Zuschriften halten wir derartiges höchst selten in Händen. Meistens drucken die Bewerberinnen ihr Konterfei auf das Anschreiben und den Lebenslauf. Somit hebt sich diese Bewerbung deutlich von der Masse ab. Sie ist handschriftlich zu Papier gebracht und das Foto wurde auf analogen Film belichtet.
Springe zu einem Abschnitt:
Ein Wasserschaden am Alexanderplatz
Ebenfalls ungewöhnlich ist das Motiv des zweiten Fotos. Das Foto zeigt den Alexanderplatz in Berlin. Allerdings erkannt man den Alex durch die Balkontür eines Zimmers. Offensichtlich wird der Raum gerade renoviert. „Das war mal die Küche“, meint Lukas, der Prophet. „Ach ja. Dort hängen noch Geschirrhandtücher. Auch die Kacheln und der Wasserhahn sind an der Wand.“
Doch der Küche fehlt etwas ganz wichtiges. Obwohl wir noch die Spuren eines menschlichen Zuhauses erkennen, hat dieses seine Intimität, seinen einer Wohnung eigenen Zweck verloren. Denn hier wird niemand mehr seine Mahlzeit zubereiten und Freunden am weißen Tisch ein Glas Wein trinken. Jedenfalls zeigt dieses Foto keine gemütliche Großstadtküche, die sie vielleicht einmal war. Dort wohnt niemand mehr. Soviel dürfte sicher sein.
Ist ein Wasserschaden der Anlass der Bewerbung?
Beim weiteren Betrachten des Fotos wird der mögliche Grund des Auszugs erkennbar. Und zwar auf dem Küchenboden. Der ist nämlich mit brauner Brühe überschwemmt. „Das wird stinken“, meinte Lukas, der Prophet und vermutete einen kapitalen Wasserschaden. Ob der der Anlass dieser Bewerbung ist?
„Ich lege das Foto auf den Scanner. Dann stelle ich das Bild ins Intranet. Damit es alle Kolonistinnen gleich sehen können“, sagte Lukas und drückte den Startknopf. Dann begann das Gerät zu surren und piepen.
Über das Glück der Bewerberinnen bestimmt das Los
Angesichts der Flut von schriftlichen Bewerbungen überlassen wir die erste Auswahl dem Zufall. Das heißt, wir nehmen die Umschläge aus der Post und werfen sie zunächst in einen Wäschekorb. Später leeren wir die Umschläge auf den Eichentisch, von wo einer von uns zehn Bewerbungen aus dem Papierberg herauszieht. Der Rest bleibt übrig, wird wiederum mit neu eingegangenen Bewerbungen gemischt und dann noch einmal der gleichen Prozedur unterzogen. Die Gezogenen öffnen wir sofort und beschäftigen uns mit dem Inhalt.
Sobald die zehn Umschläge gezogen und geöffnet sind, macht sich einer von uns daran, den Inhalt zu verlesen. Wer vorliest, übernimmt zugleich die Rolle einer Fürsprecherin. Wer zuhört, macht sich derweil Notizen und hält danach eine kritische Gegenrede.
Danach entscheiden wir nach dem Für und Wider, ob eine Bewerberin sofort verworfen, oder in die engere Wahl genommen wird. Allerdings räume ich ein, dass es bezüglich der Kriterien bisweilen beträchtliche Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen unter uns gibt.
Zu viele Bewerbungen, zu viel Arbeit
Dennoch bleibt die Frage: Wie sollen wir das alles jetzt bloß schaffen? Seit Theophil Meisterberg auf die Sonnenmauer verbannt wurde, sind wir nur noch zu zweit in der Geistlichen Hütte. Vier Wochen bleibt er in seinem Gefängnis ohne Gitter. Außerdem fehlt uns noch immer unser Helfer Hunde-Tommy. Niemand weiß, wo er ist, ob und wann er zurückkommt. Somit ist die Hälfte des geistlichen Personals ausgefallen.
Zugleich stapeln sich die vollen Wäschekörbe. Außerdem reisen viele Bewerberinnen persönlich nach Pirmasens. Mit ihnen sollen wie persönliche Gespräche führen. Unterm Strich ist diese Arbeit kaum zu schaffen.
Erst Gottbier, die Arbeit muss warten
Trotz der vielen Bewerbungen leiteten wir an diesem Tag vorzeitig den Feierabend ein. Schließlich lockt ein lauer Frühlingsabend. Kurzum, der Abend ist dafür geschaffen, noch eine Kiste Gottbier zu leeren.
Wer die Bewerberin vom Berliner Alexanderplatz ist, was sie nach Pirmasens in die Kolonie zieht, werden wir noch herausfinden. Aber jetzt wollen wir uns ausruhen und trinken. Sobald wir wieder nüchtern sind, setzen wir die Arbeit fort. Dann führen Lukas, der Prophet und ich das obligatorische Streitgespräch über die Bewerberin Ester Berlin.
Bericht: Fetthans
Foto: Bewerberin