Isolation: Das schwere Kreuz der Quarantäne
Isolation haben sie über mich verhängt. 40 Tage lang sperren sie mich ein. Mein Zimmer ist mein Gefängnis. Mein Bett ist meine Pritsche. Ich spreche mit dem Computer, mit den Büchern, mit den Zeitungen und am meisten mit mir selbst. Dabei bin ich die Person, die ich am wenigsten ertrage. Deswegen drehe ich den Spiegel um.
Isolation, Quarantäne. Ich gehe im Zimmer auf und ab. Am Fenster kullern die Regentropfen. Ich sehe den Flieder seine zarten Knospen treiben durch winterschlieriges Glas. Lüften soll ich. Also öffne ich das Fenster. Ich höre die Vögel wie sie zwitschern und singend um die große Liebe des Frühlings werben. Doch für mich ist die Erotik des Frühlings abgesagt. Quarantäne. 40 Tage eingesperrt in mir selbst und meinem Leben.
Die Freunde kommen. Aber sie bleiben mir freundlich fern. Zwei Meter mindestens. Dabei tragen sie Masken. „Wie geht es dir heute?“ fragt Ester Berlin durch die spaltbreit geöffnete Tür. „Gut. Es geht mir gut“, antworte ich. Aber das ist respektvoll gelogen.
Sie reicht mir Gottbier, Ölsardinen, Tabak für Selbstdreher und einen großen Stoffbeutel. Darin sind Äpfel, Orangen, Kiwi und Bananen. „Du musst Vitamine zu dir nehmen. Das stärkt die Abwehrkräfte“, sagt Ester bevor sie geht.
Zu mir herein kommt sie nicht. Isolation eines Risikopatienten. Doch ich weiß es dem Verstande nach. Das alles geschieht nur zu meinem Schutz. Aus Angst vor dem Coronavirus. Sie meinen es gut mit mir, wollen mich nicht verlieren.
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Isolation und das Kreuz der Einsamkeit
Die Einsamkeit ist ein schweres Kreuz. Das muss ich jetzt tragen. Auch wenn es unablässig schmerzt. Immer wieder spreche ich mir vor: Du musst das Notwendige tun. Isolation, Quarantäne. Das Mantra des Unausweichlichen. Sie haben mir dieses Kreuz auferlegt.
Weil ich krank war und geschwächt bin. „Wenn du die Seuche bekommst, werden dich die Ärzte vielleicht nicht behandeln. Deine Chancen auf Genesung sind zu gering. Die Betten sind für aussichtsreiche Kranke da“, erklärt mir Claude Otisse. Mein Freund, der gesunde Journalist. Der muss es wissen. Schließlich befragt er die Fachleute nach der schlimmen Seuche.
Isolation und Quarantäne weil ich Krebs hatte. Weil ich den Kreuzweg zum Tode schon einmal antrat, aber doch die Gnade fand, noch einmal umkehren zu dürfen. Doch jetzt kommen sie heran und laden mir das Kreuz aufs Neue auf. Zwar ist es ein anderes. Aber wer hilft mir beim Tragen? Fetthans Pirmasens vielleicht? Mag er meine Last für ein paar Meter übernehmen, wie es Simon von Cyrene für Jesus tat?
Isolation macht Lust auf Bier und Zigaretten
„Nein, ich kann nicht zu dir, denn ich könnte das Coronavirus schon in mir haben“, sagt Fetthans und geht weiter. So bleibe ich zurück in der Isolation meiner Hütte, meines Zimmers mit dem umgedrehten Spiegel. Dann werde ich müde, verspüre ein leichtes Kratzen im Hals. Zu viele Zigaretten. Auf dem kleinen Beistelltisch fliegen Tabakkrümel und Asche hoch, als ich den Computer darauf abstelle. Die Isolation macht Lust auf Nikotin. Ich denke an Erika. Ob sie in diesem Moment an mich denkt, meine ferne Geliebte?
Die Müdigkeit treibt mich aufs Bett. Ich greife das Buch vom Nachttisch, das mir Ex-Terroristin Svetlana zur Lektüre empfiehlt. „Technik und Wissenschaft als Ideologie“ von Jürgen Habermas. Hilft mir die Philosophie, das Kreuz der Isolation zu tragen? Die Vernunft regiert den Verstand. Aber wer regiert die Vernunft? Ich lege das Buch zurück und schaue zur Decke. Weiß getünchte Gipsplatten, ein paar schief eingeschlagene Krampen. Eine Spinne baut emsig an ihrem Netz.
Obwohl wie zum Tode ermüdet, finde ich nicht in den Schlaf. Linke Seite, rechte Seite, auf dem Rücken, auf dem Bauch – ein kühler Luftzug weht durch das schräg gestellte Fenster. Draußen setzt die Dämmerung ein, der Abend beginnt. Ich setzte mich auf, greife in die Kiste neben dem Bett und öffne an der Kante der Bettlade eine Flasche Gottbier. Zisch! Doch selbst das würzige Getränk will mich nicht so richtig schmecken.
Theophil Meisterberg flieht durchs Fenster
Ich muss hier raus! Also fasse ich den verbotenen Entschluss. Sobald es draußen dunkel ist und die Laternen brennen, ziehe ich den Mantel über und steige leise durchs Fenster. Da ist niemand. Sie halten mich nicht auf. Auch das Tor steht offen. Schon bin ich auf dem Weg in die Stadt.
Es fahren wenige Autos. Aber Fußgänger treffe ich keine. Vielleicht weil ein dünner Nieselregen über Pirmasens hängt. Bald ist die lange Straße durchschritten. Ich wende mich den Berg hinauf zum Wallhalla-Kinocenter. Dort läuft eine Verfilmung von Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“. Warum haben sie nicht den Steppenwolf genommen? Der würde besser in die Zeit von Coronavirus und Isolation passen. Ich sehe mich um. Folgt mir jemand? Nein, ich bin alleine.
Ab jetzt geht es bergab. Ich folge der Allee bis zum Krankenhaus. Das Klinikgebäude ist hell erleuchtet. Ich sehe es gut, trotzdem es hinter Bäumen und Büschen liegt, denn noch schlummern die Blätter in den Knospen. Es herrscht Betrieb in den Zimmern. Noch ist nicht Schlafenszeit. Stimmt es, dass die mir die Behandlung verweigern würden, weil meine Heilungschancen zu schlecht sind? Mein Puls beginnt zu rasen, während ich das nächtliche Krankenhaus beobachte.
Otisse holt den Flüchtigen in die Quarantäne zurück
Erinnerungen an Untersuchungen, Operationen und mahnende Worte. „Sie müssen ihr Leben ändern“, haben die Ärzte nach der Krebs-Operation gesagt. Das habe ich auch getan. Ja, ich habe mein Leben geändert. Sesshaft bin ich geworden. Meiner Bestimmung als Pfarrer bin ich gefolgt und endlich in der Pirmasenser Kolonie angekommen. Nein, das darf jetzt noch nicht vorbei sein. Ich will nicht in die Isolation, nicht in Quarantäne und ich will auch kein Coronavirus.
Plötzlich hupt ein Auto hinter mir. Ich drehe mich erschrocken um. Eine Kamera blitzt auf. Zum Weglaufen ist es zu spät. Claude Otisse hat mich gefunden. Er trägt einen Schutzanzug aus weißem Plastik und eine grüne Atemmaske. „Komm herein!“ Ich widersetze mich nicht und steige zu. Wenige Minuten später liege ich wieder auf dem Bett und schaue der Spinne beim Netzbau zu. Doch, ich muss das Notwendige tun. Womöglich hilft es ja. Also doch Jürgen Habermas.