Wandertrieb: Der schöne Tod des Eisverkäufers
Dieser ewige Wandertrieb suchte mich wieder heim. An diesem Tag war er plötzlich wieder da. Die innere Unruhe kündigte ihn an. Wie aus dem Nichts überfiel sie mich. Dabei fügt mir dieser Trieb doch einigen Schaden zu. Denn kaum bin ich irgendwo sesshaft geworden, vertreibt er mich schon wieder. Während andere Häuser bauen und Familien gründen, ziehe ich kreuz und quer im Land umher. All mein Eigentum passt in einen Rucksack. Indessen reichen den anderen selbst 180 Quadratmeter nicht aus zum lagern von Hab und Gut.
Allerdings ist der Wandertrieb nicht nur und ausschließlich schlecht. Das Vagabundieren bescherte mir im Lauf der Jahre durchaus spannende und manchmal sogar sonderbare Begegnungen. All diese Menschen hätte gewiss nie getroffen, wäre ich zu Hause an meinem Schreibtisch sitzen geblieben. So kam es also, dass ich an diesem hellen Sonnentag die bequeme Behausung meines Gastgebers Claude Otisse verließ. Eine Wanderung durch die Wälder. Eine Runde auf vertrauten Wegen sollte es werden. Aber genau dort, wo ich das Bekannte erwartete, traf ich auf gänzlich Unerwartetes.
Springe zu einem Abschnitt:
Ein Mann zieht einen Strick
Das Leben jubilierte in diesem Frühling. Die Knospen trieben aus und in den Baumkronen zwitscherten die Vögel. Unter diesem Konzert zogen mich die Füße mich nach Süden. Dorthin, wo der Wald am dichtesten steht. Meine schnellen Schritte ließen die Stadt bald hinter mir verschwinden. Die Hügel stieg ich hoch und wieder hinunter. Schroffe Schluchten und sanfte Täler durchquerte ich. Vier Stunden muskulöser Marsch. Dann erreichte ich auf dem breiten Weg im lichten Wald einen Hain aus Buchen und Eichen. Wo ich diesen ungewöhnlichen Mann erblickte. Er ging ein paar hundert Meter vor mir auf dem selben Weg. Ob auch er ein Opfer seines Wandertriebs war?
Groß gewachsen und kraftvoll erschien mir der Fremde. Der so langsam ging, dass ich ihn ohne Mühe einholte und zu ihm aufschloss. Wie es Brauch ist im Pfälzer Wald, grüßte ich den Fremden: „Guten Tag!“ Er erwiderte kaum mehr als ein angedeutetes Nicken. Dabei senkte er den Blick zu Boden. Er trug eine Art Strick in seiner rechten Hand.
Da im dichten Unterholz viele wilde Tiere leben, war ihm womöglich sein Hund entlaufen. Ich vermutete, dass dieser Mensch einer jener sei, dessen vierbeiniger Begleiter gerade seine Jagdinstinkte auslebt. Während der Mensch mit leerer Leine ratlos zurückbleibt und ums Leben seines Hundes fürchtet. Schließlich wäre es nicht das erste Mal. Immer wieder wecken Wildschweine, Rehe, Hirsche, Dachse, Wildkatzen, Luchse und Wölfe die Urtriebe der ansonsten braven Domestiken. Also fragte ich den Fremden: „Haben sie ihren Hund verloren?“
Wandertrieb mit Galgenstrick
Der Fremde sah mich nicht an und blieb die Antwort schuldig. Statt dessen verbarg seine Hand das Seil eilig hinter seinem Rücken. Dann ging er langsam und schweigend weiter. Also beschleunigte ich meine Schritte zum gewohnten Takt und ließ ihn zurück. „Warten Sie!“, rief er mich an. Ich wartete. Der Fremde kam nun heran. Er blieb aufrecht stehen, sah mich jetzt unumwunden an. Dabei holte er den Strick hinter seinem Rücken hervor.
Der Fremde hob das freie Ende des Stricks bis über seinen Kopf und zog das andere Ende aus der Jacke. Das Seil offenbarte mir nun seinen Zweck. Darüber erschrak ich ein wenig. „Das hier ist ein Galgenstrick“, bemerkte ich mit dem Finger auf die Schlinge deutend. Nach dem er das Seil entfaltet hatte, lag die Schlinge im weichen Sand zu unseren Füßen.
Die Frage nach dem richtigen Ast
„Ich bin Eisverkäufer und suche den schönen Tod“, presste der Fremde aus der Kehle hervor. Während seiner Worte holte er den Strick wieder ein. Einen Augenblick lang schien er zu überlegen. Dann streckte er mir den Strick auf beiden Händen entgegen. So, als reichte er mir den Galgenstrick auf einem Silbertablett zum Geschenk.
Ich ergriff das Seil. Dann zog ich es prüfend durch die Hände. Ich begutachtete den Strick aufmerksam. Vom Anfang zur Schlinge und besah schließlich aufmerksam den Knoten. Ein Artefakt hervorragende Arbeit hielt ich in den Händen. Aus Hanf kunstvoll geflochten, glatt, hochwertig und stabil. Ich sagte zu ihm; „Ja, das Seil ist stabil und gut geknüpft.“ Der Fremde fragte: „Helfen Sie mir, den richtigen Ast zu finden?“
Nun hatte dieser Eisverkäufer das Werkzeug seines Freitods in meine Hände gelegt. Er ging auf der linken Seite des Wegs, ich auf der rechten. Zwischen mir und dem Fremden befand sich mittig ein Streifen aus Gras. Unter den Füßen knirschte der Schotter. Diesen hatten die Waldarbeiter aufgetragen, damit ihre schweren Lastwagen und Maschinen nicht im losen Sand stecken blieben. Ich schwitzte leicht unter der jetzt täglich wachsenden Kraft der Sonne. Um die Last des Stricks etwas leichter zu tragen, wickelte ich das Seil zu losen Schlingen auf und nahm es schräg über die Schulter. So wie ich gewöhnlich meine Umhängetasche schultere.
Einer trage des anderen Last
Gerne war ich bereit. Ja, ich trug die Last des anderen. Doch wurde mir der Galgenstrick des Fremden mit jedem Schritt unangenehmer. Ständig verrutschen die Schlingen und fielen zu den Füßen. Weshalb ich mehrmals stolperte. Also griff ich den Galgenstrick mit der linken Hand. Dann begann das Hanf an meinem Hals zu scheuern. Sehr bald spürte ich den spitzen Schmerz der wunden Stelle auf der Haut. Diese Unbequemlichkeiten mochte ich nun doch nicht mehr ertragen. Also sah ich mich zu einer Entscheidung gezwungen.
Doch wie wird die Entscheidung ausfallen? Wie sollte ich den Galgenstrick des Eisverkäufers wieder los werden? Ursprünglich hatte ich doch lediglich vor, mit dieser Runde durch den Pfälzer Wald meinem eigenen Problem zu entkommen. Einzig dem mich heimsuchenden Flucht- und Wandertrieb wollte ich damit Genüge tun. Aber mit anschließender Wiederkehr in Otisses Haus. Dauerhaft wollte ich nicht mehr unterwegs sein. Damit mir kein neuer Schaden durch eine weitere Flucht entstehen sollte. Diese Dinge eben. Doch keinesfalls war diese Wanderung dazu bestimmt, die Todessehnsucht eines Lebensüberdrüssigen zu heilen.
Zwar kam mir zwischendurch tatsächlich der Gedanke, den Galgenstrick einfach nicht mehr her zu geben. Damit wäre der Eisverkäufer wenigstens für kurze Zeit seines Werkzeugs zum Freitod beraubt gewesen. In den gewonnenen Stunden hätte er seinen Entschluss ein weiteres Mal überdenken können. Oder ich hätte kurzerhand den psychiatrischen Notdienst angerufen. Auch letzteres wäre möglich gewesen. Denn Otisses Vergesslichkeit konnte ich sein Mobiltelefon einstecken. Er hatte es am Morgen auf dem Schreibtisch liegen lassen.
Eine dritte Möglichkeit wäre aber auch die, ihm einen schönen Ast zu zeigen. Dann könnte der Lebensüberdrüssige seinen Galgenstrick wieder in die eigenen Hände nehmen. Dann darf er seinen Entschluss in die Tat umsetzten. In diesem Fall müsste ich den Strick nicht mehr am Halse tragen. Obendrein wäre ich der Verantwortung für diesen Menschen ledig. So bewegte ich meine Gedanken. Während ich in Begleitung des Eisverkäufers den Zenit meiner Rund überschritt, erschien mir bereits lebhaft die Flasche Bier in Otisses Haus vor Augen. Ich musste also handeln, denn ich verspürte plötzlich starken Durst. Und schließlich musste ich ja meinem Wandertrieb die Grenzen zeigen. Aber bevor ich handelte, wollte ich doch noch etwas mehr über den Lebensüberdrüssigen erfahren.
Der Entschluss stimmt den Überdrüssigen heiter
„Wo kommen Sie her?“, fragte ich den Fremden. „Aus Bad Liebenzell. Wir betreiben dort ein Eiscafé“, erzählte er. „Sind Sie erfolgreich damit?“ – „Ja. Das Geschäft läuft sehr gut. Es kommen viele Gäste aus Karlsruhe und Stuttgart zu uns.“ „Haben Sie Familie?“ – „Eine Frau und vier Töchter. Die beiden Ältesten studieren in Freiburg und Mannheim. Die Jüngeren gehen noch zur Schule.“ „Warum suchen Sie den schönen Tod, obwohl ihr Leben so erfolgreich ist?“ – „Ach, die Frage habe ich erwartet. Ganz einfach. Ich bin des Lebens überdrüssig. Und ich will dem ein Ende setzen. Den Galgenstrick besitze ich schon seit zwei Jahren. Seit er bei mir ist, erlebe ich die heitersten Jahre.“
Aus seinen Antworten vernahm ich keinerlei Hinweise auf eine Krankheit. Nein, dieser Mensch war bei gesunden Sinnen und klarem Verstand. Gleichwohl, er war sicherlich einer jener satten Bürger, die ihre innere Leer mit Besitz und gesellschaftlichem Ansehen aufzufüllen versuchen. Solch ein bürgerliches Dasein mag in gewisser Weise doch der Ausdruck eines tief kranken Gemütes sein.
Aber da ich nun mal kein Psychiater bürgerlicher Wahnvorstellungen bin, werde ich keine Heilungsversuche unternehmen. Zumal er über die gewählte Daseinsweise hinaus keine Zeichen eines Leidens trug. Also fragte ich den Eisverkäufer: „Sie wollen wissen, ob ich Ihnen einen Ast zum Erhängen zeige?“
„Ja, diesen einen Ast meine ich“, sagte er. Also entschied ich, ihn zu diesem Ast zu führen. Ich forderte ihn auf: „Dann lassen Sie uns ein Stück zusammen gehen. Ich kenne eine wunderbare Kiefer. Sie besitzt starke Äste, ist nicht zu hoch gewachsen und steht abgelegen an einem Ort. Der gewährt Ihnen eine herrliche Aussicht bis zu den hohen Kämmen der Vogesen.“
Ankunft am schönen Ziel
„Wir sind angekommen“, sagte ich dem Fremden und wies ihm den schmalen Pfad. Der führte den Hügel hinauf bis zu der Lichtung mit der Kiefer. „Gehen wir hinauf“, sagte der Eisverkäufer. Er schritt voran, ich folgte ihm. „Das ist der Baum, den Sie meinten?“– „Ja, das ist die Kiefer.“ – „Was sind Sie von Beruf, dass Sie derart schöne Orte kennen?“– „Hausierer. In dieser Profession bin ich viel herum gekommen. Sogar bis in den Schwarzwald.“ – „Mögen Sie diese Gegend?“ – „Nein.“ – „Ich mag den Schwarzwald auch nicht“, stimmte der Fremde zu. Obwohl er ebenso wie ich dort geboren wurde und aufgewachsen ist.
Er und ich standen eine Weile schweigend. Beide besahen die Äste der Kiefer. Forschend, welcher wohl am besten geeignet wäre, den Galgenstrick sicher zu tragen. „Dieser hier ist es!“ Er traf seine Wahl und erklomm den Stamm. Geschickt schlang er das freie Ende des Seils um den starken Ast und befestigte es mit einem sicheren Knoten. „Ich habe das geübt“, sagte der Eisverkäufer stolz und betrachtete sein Werk. Dann prüfte er die Schlinge, legte sie lose über den Ursprung des Astes. Dann stieg er wieder herab.
Ein letztes Gespräch zum Abschied
„Die Aussicht ist in der Tat erhebend“, bemerkte der Fremde. Er fragte: „Sehen Sie den Flieger?“ – „Ja!“ – „Die sind unterwegs in den Süden Urlaub unter Palmen. Meine Tochter fliegt heute ab Frankfurt. Ich habe ihr und ihrem Freund die Reise zu Ostern geschenkt. Sie folgen gerne ihrem Wandertrieb.“ – „Sitzt sie in diesem Flieger?“ – „Gut Möglich.“ – „Winken sie ihr zum Abschied?“– „Nein!“
„Die Zeit ist fortgeschritten, ich muss jetzt weiter“, sagte ich. Denn gegen Abend mochte ich wieder zu Hause sein. „Haben Sie vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen“, lobte mich der Fremde zum Abschied. Ich wandte mich um, stieg den Pfad hinab zum Hauptweg. Danach sah ich kurz zurück, bevor die Kiefer außer Sichtweite geriet. Der Eisverkäufer kletterte erneut auf die Kiefer. Sodann legte er sich die Schlinge um den Hals. Dann fiel der Mann und pendelte am Halse hängend frei am Galgenstrick. Er hatte den schönen Tod gefunden. Er war an seinem Ziel seines persönlichen Wandertriebs angekommen. Das meine jedoch lag noch mindestens drei Wanderstunden entfernt.
Ich wendete meinen Schritt nach Norden und wanderte zurück zu Otisses Haus. Bei einer Kiste erfrischendem Bier gedachte ich müde und zufrieden diesem wunderbaren Frühlingstag. Erfolgreich eingehegt war der lästige Wandertrieb. Ich machte die Erfahrung, dass ich mit der Hilfe von moralischer Disziplin dem Wandertrieb ein Schnippchen schlagen konnte.
Bericht: Theophil Meisterberg
Foto: Theophil Meisterberg