Geschichte: Der unendliche Fetthans Pirmasens
Mein Name ist Fetthans Pirmasens. Aber die Leute nennen mich einfach nur Fetthans. Nicht mehr. Einen anderen Namen besitze ich nicht. Weder ein Doppelname noch ein Doktortitel ist mir zu eigen. Vielleicht meinen Sie jetzt, der Name verrate etwas über meine äußere Gestalt. Oder er enthielte einen versteckten Hinweis auf eine gewisse Eigenschaften.
Doch nein, da muss ich Sie als Fetthans leider enttäuschen. Ich bin ein normal gewachsener Mann. Keineswegs bin ich verfettet oder in sonstiger Weise verwachsen. Sie dürfen mich sogar gerne als sportlich betrachten. Denn ich gerate auch dann nur unwesentlich außer Atem, wenn ich zuerst die Kaffeetreppe erklimme und gleich danach die Schlosstreppe, bevor ich die steile Klosterstraße hinauf haste und die Kuppe des Berges Horeb erreiche. Dabei überwinde ich immerhin einen Höhenunterschied von gut 200 Metern. Eine überaus respektable Leistung, finden Sie nicht auch?
Allerdings, ja, was die Psyche angeht, so muss ich doch einige Besonderheiten einräumen. Tatsächlich werden Sie einige recht ungewöhnliche Eigenschaften an mir zu erkennen.
Die Tatsache, dass ich mein eigenes Geburtsdatum nicht kenne, mag sich in modernen Ohren geradezu unglaublich anhören. Schließlich ist der Geburtstag die Grundlage des bürgerlichen Daseins überhaupt. Wie elementar dieses Datum ist, zeigt alleine schon der Versuch, ohne dieses einen Personalausweis zu bekommen. Die ungefähre Angabe einer Jahreszahl reicht dafür nicht aus.
Dass ich in Pirmasens geboren bin, glaubten die Beamten schon immer gerne. Meine Kleidung, Sprache und Körperhaltung lassen keinen anderen Schluss zu als diesen: Ich bin Pirmasenser. Doch das Geburtsdatum musste ich erfinden, um ihnen irgendein genaues Datum zu nennen. Nur weil ich dem Amt bekannt bin und mithilfe einer gesetzlichen Ausnahme für Menschen in Not ist es mir gelungen, an das begehrte Dokument zu kommen.
Das bezeugt nun vor der ganzen Welt, dass ich der Fetthans bin. Doch mit dem Siegeszug der Fotografie ist – was meine Person betrifft – eine weitere drängende Frage aufgetaucht, nämlich wie die hohe Zahl der Jahre zu meinem noch immer jugendlichen Aussehen passen könnte.
Springe zu einem Abschnitt:
Fetthans erhält seinen Namen
Fetthans? Wo kommt der merkwürdige Name her? Ich werde es Ihnen verraten. Er stammt aus dem Mund eines Adeligen. Auch wenn er beim ersten Hinhören so gar nicht hochherrschaftlich klingen will.
Es war kein geringerer als Landgraf Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt, der mir diesen Namen bei einem historisch überaus bedeutsamen Ereignis verlieh. Am Montag, 29. August 1763, paradierte ich mit meinem Regiment in der heißen Nachmittagssonne vor dem landgräflichen Schloss zur Feier der am Freitag zuvor erhaltenen Stadtrechte. Irgendetwas an meiner Uniform missfiel dem edlen Kommandeur.
Der Landgraf persönlich zitierte mich aus dem Glied und musterte mich mit kritischem Blick von oben nach unten und wieder zurück. Er befahl: „Fetthans, morgen glänzt dein Rock nicht mehr! Waschen!“ Ich glaube, er sah diese soldatische Mischung aus Schweiß und Staub auf meinen Kleidern in der Augustsonne schimmern und hielt es für den Widerschein von altem Fett, das beim Essen herunter tropfte. Vielleicht war es das ja auch. Die soldatischen Tischsitten waren so roh und ungehobelt wie das übrige Leben beim Militär.
Seit diesem Tag heiße ich Fetthans. Das ist jetzt – wir schreiben das Jahr 2017 – ziemlich genau 253 Jahre her. Als ich im Heer des Landgrafen diente, zählte ich etwa 25 Lenze, jetzt bin ich demnach ganze 278 Jahre alt. Stimmt das? Kann, ja darf ein einigermaßen gebildeter, aufgeklärter Mensch so eine Geschichte glauben?
Pirmasens ist des Fetthans‘ Schicksal
Was die Zahl meiner Jahre betrifft, stimmt die Geschichte. Schließlich lebe ich noch heute und erfreue mich dabei bester Gesundheit. Was also ist die Wahrheit? Die Wahrheit ist, dass ich ein Mann von Mitte 40 bin. Was bedeutet: Ich bin in den vergangenen 253 Jahren, seit ich Fetthans heiße, um 20 Jahre gealtert.
Genau diese 20 Jahre entsprechen genau der Zeitspanne, die ich außerhalb von Pirmasens verbrachte. So fiel es mir irgendwann auf: Verlebe ich meine Zeit in Pirmasens, werde ich zwar älter an Jahren, aber ich altere nicht. Eine Beobachtung, die eine weitere Erkenntnis offenbart. Mein Leben ist fest mit der Existenz dieser Stadt am Berg Horeb verbunden. Gibt es Pirmasens nicht mehr, gibt es mich nicht mehr. Ein Schicksal also, das nicht zu widerlegen ist.
Aus Sicht der Biologie und der Medizin bleibt dagegen die Frage offen, ob die Logik meiner Geschichte auch in der entgegengesetzten Richtung wirkt. Verschwände Pirmasens von der Landkarte, wenn ich – sei es durch die Hand eines Mörders, durch Suizid, einen Unfall oder wegen einer Krankheit – sterben würde?
Wenn Sterbende das Leben bereuen
Es gab Tage, Wochen und Monate, da ich meines Lebens überdrüssig war und mit jeder Faser meines Körpers um des Sterbens Willen den Tod herbeiwünschte. Immer wenn ich liebgewonnene Menschen altern und sterben sah, überkam mich eine tiefe Schwermut und mit ihr die Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit wie sie in den Gesichtern der Toten zu sehen sind. Ich mag die Toten. Während ich sie wasche, ankleide und zärtlich in den Sarg dekoriere, sprechen sie zu mir. Sie erzählen die Geschichte ihres Lebens, von ihren Siegen und Niederlagen, ihren Sorgen und Freuden, von ihrem Schmerz und ihrer Lust.
Der allerletzte Freudensturm
Die größte Lust eines jeden, den ich seit Beginn meiner Tätigkeit als Bestatter im Jahr 1792 zu Grabe brachte, war das Sterben. Nie bereute einer, gestorben zu sein. Über das Leben allerdings beklagen sich viele. Das Schöne am Sterben ist das Verstummen des Schmerzes, das die Sterbenden aller Sorge und Not enthebt und das helle, klare Licht am Horizont, das ihnen ewige Freiheit in Geborgenheit und Liebe verheißt.
Die Vereinigung des vergänglichen Menschen mit der Ewigkeit ergießt einen überwältigenden Freudenstrom über alle Gefühle. Es ist das vom göttlicher Hand gewährte Schlussfeuerwerk. Alleine dafür lohnt sich das Sterben.
Wie gerne würde ich in dieses wundervollste aller Lichter treten, um mich in die Ewigkeit zu verabschieden. Ach, fände sich doch eine exakte Wissenschaft, die meine Alterungsanomalie nicht nur als eine höchst seltene Erkrankung feststellt. Ich wünsche mir einen Berufenen, der mir ebenso sicher die Unabhängigkeit meines Daseins von meiner Stadt bescheinigt. Dann nämlich wäre ich frei zum gewöhnlichen Tode.
Aber so lange auch nur der geringste Zweifel besteht, ob mein Sterben noch doch zugleich das Ende meines geliebten Pirmasens bedeutet, entsage ich der höchsten von Menschen empfangbaren Lust. Ich lebe also mit, in und für diese Stadt. Pirmasens ist für mich Sinn, Ziel und Lebensgrund zugleich.
So bleibt mir keine andere Wahl als das Leben. Weiterhin bestatte ich neben all den anderen Toten die erfolgreichen Suizidenten, die im Frühjahr und zur Weihnachtszeit in derart großer Zahl über meine Tische gehen, dass ich für die Suizid-Saisons zusätzliche Hilfskräfte einstellen muss.
Vom Liebesleben des Bestatters
Es ist noch gar nicht lange her, es war im letzten Herbst, da schickte mir die Arbeitsagentur Marina zur Aushilfe. Weil ich den Keller voller Leichen hatte und die Beerdigungstermine ohne Unterstützung nicht zu schaffen waren. Außer den Wissenschaftlern und Ärzten ist Marina die einzige, die mir meine Geschichte glaubt und die mich nicht sofort für verrückt erklärte. Marina wurde meine zweite Liebe.
Mit Marina erfahre ich einmal mehr, wie untrennbar Tod und Leidenschaft zusammengehören. Heute ist sie 59 Jahre alt. Mit 60 will sie springen. Ich soll sie, die schöne, sportliche und über alles geliebte Frau, nicht vor meinen Augen zerfallen sehen. Für ihren runden Geburtstag haben wir verabredet, dass Marina morgens nach dem Frühstück das Haus verlässt.
Später wird man sie als Leiche zurückbringen. Dann werde ich die Geliebte auf meinem Tisch waschen und anziehen. Soweit das nach dem Aufschlag noch möglich sein wird, will ich sie einem Engel gleich zur Beisetzung vorbereiten. Dabei werde ich Marina ein letztes Mal nahe sein.
Zum Tanz ins Café Luitpold
Meine andere große Liebe hieß Berta. Sie war 1906 aus dem lothringischen Dorf Siersthal nach Pirmasens gekommen, um zu arbeiten. Ich lernte sie im Café Luitpold kennen, wo am Sonntagnachmittag eine Kapelle zum Tanz aufspielte. Ich verliebte ich mich in die blonde, hochaufgeschossene Frau und ihre blauen, großen Augen.
Berta erwiderte meine Gefühle trotz des großen Altersunterschieds. Sie war 22 und ich Mitte 40 – und wir trafen uns bald regelmäßig. Wir flanierten vorbei an den Geschäften der Hauptstraße bis hinaus zum Volksgarten und zum Weißen Bären, wo wir uns gegen Abend einen kleinen Imbiss gönnten.
Die Gier der Fabriken nach Arbeitern
Pirmasens wuchs und wuchs. Weil das Wachstum neue Menschen brachte, stampften Arbeiter an allen Ecken Wohnhäuser, Geschäfts- und Industriebauten aus dem Boden. Ganze Stadtviertel entstanden in jenen Jahren. Die Stadt genoss die neuesten technischen Errungenschaften wie Elektrizität, frisches Leitungswasser und das Reisen mit der Eisenbahn.
Sogar die ersten Automobile knatterten über die Straßen. Die Fabriken liefen heiß und verlangten nach immer neuen Arbeitskräften. Im Oktober des Jahres 1908 heirateten wir in der Lutherkirche, welche die Pirmasenser die „unnerscht Kerch“ nannten. Das Geschäft mit den Toten lief einträglich. Berta und ich wünschten uns sehnlichst ein Kind. Doch so sehr wir uns auch mühten, dieser Wunsch blieb uns versagt. Alldieweil blieb die Schwangerschaft aus.
Es kam der große Krieg und ich fürchtete den Einsatz an der Front. Nein, die Begeisterung der Masse für die große Schlacht teilte ich nicht. Denn ich wusste, dass kein Krieg auch nur den geringsten Anlass zur Freude stiften kann. Allerdings bewahrheitete sich meine Befürchtung nicht. Weil ich als Bestatter in der Heimat unentbehrlich und schon weit über 40 Jahre alt war, stellte mich die kaiserliche Militärverwaltung „UK“, was hieß: unabkömmlich.
Fetthans an der Heimatfront
Berta und mir blieben also die Aufgaben an der Heimatfront. Denn wo vor dem Krieg Werkzeuge und Maschinen für die Schuhfabriken gebaut wurden, fertigten nun Frauen im Mehrschichtbetrieb Munition und Waffenteile für die Front. Berta stand an einer Drehmaschine und stellte die stählernen Mäntel der Granaten her. Ich hatte alle Hände voll mit den Gefallenen zu tun, die das Heer von den Schlachtfeldern zurück schickte.
Gegen Kriegsende wurden es weniger, denn man begrub die Ärmsten irgendwo im Feld, oder sie blieben einfach liegen und wurden vom Bombenhagel untergepflügt. Zivile Opfer hatte die Stadt auch zu beklagen. Englische Flieger wagten es, über der Stadtmitte einige Mörsergranaten über Bord zu werfen. Ein Haus wurde zerstört und es gab sieben Tote, die ich unter die Erde zu bringen hatte.
Berta verlor auf dem Felde sechs ihrer sieben Brüder. Drei dienten in der deutschen, vier in der französischen Armee, alle standen sich in Verdun gegenüber, wie wir nach dem Krieg erfuhren. Ein Grab hat keiner der Brüder.
Viel Arbeit für den Bestatter Fetthans
Mit der zuvor aufstrebenden und wachsenden Stadt Pirmasens ging es während des großen Krieges wieder bergab. Es fehlten die Rohwaren, die Arbeitskräfte und die Nachfrage nach neuem Schuhwerk brach ein. Bittere Armut machte sich im königlich-bayerischen Pirmasens breit.
Die Selbstmörder waren bald wieder meine besten und häufigsten Kunden, und das nicht nur zu Weihnachten und Ostern wie in Friedenszeiten. Unter den Toten waren auch Kinder jeden Alters. Mütter verschlossen Fenster und Türen der Küche und drehten den Gashahn auf. Wenn die Nachbarn wegen des Geruchs Verdacht schöpften und beim Aufbrechen der Türen einen kleinen Funkenflug erzeugten, explodierte das ganze Haus und ich bekam noch mehr Arbeit.
Berta leidet an Schuldgefühlen
Berta fühlte sich schuldig. Schuldig am Tod ihrer Brüder, die sie nicht vor den mörderischen Kriegsherren beschützen konnte; schuldig an unserer Kinderlosigkeit, deren Ursache sie in ihrer Unfruchtbarkeit wähnte. Auf die Idee, meine Spermien könnten für die Misere verantwortlich sein, kam sie nicht. Ich dagegen schon. Berta war natürlich nicht die einzige Frau, mir der ich während meines langen Erdenlebens geschlafen hatte.
Schwanger wurde jedoch nicht eine von ihnen. Das mit den Frauen verriet ich Berta allerdings nicht. Was keineswegs ein Ausdruck meiner Feigheit war, sondern gute Gründe hatte. Eine Liebesaffäre im Vormärz der 1848er Revolution hätte sie mir sowieso nicht geglaubt – sie hielt meine unzerstörbare Jugend für eine Art Familienerbstück – und ich wollte sie schließlich nicht mit der Vergangenheit belasten. Auch und besonders weil sie ihre finstersten Seelenzustände mit religiöser Inbrunst pflegte, litt Berta unter ihren Schuldgefühlen.
Fetthans wird Parteimitglied
Andere in dieser Stadt auf sieben Hügeln luden unvorstellbar grauenhafte Schuld auf sich und entbehrten dennoch eines jeden Schuldgefühls. Als der Führer das Kanzleramt übernahm, jubelte die Pirmasenser Nazi-Partei in einem langen Fackelzug durch die Hauptstraße bis zum Exerzierplatz. Trotzdem ich nie mit den Nazis sympathisierte, trat ich gleich im Februar 1933 in die Partei ein.
Bestattungen von Mitgliedern der Honoratiorenfamilien waren ein zu lukratives Geschäft, als dass ich mir dieses entgehen lassen wollte. Dabei war mir schon zu Anfang der Nazi-Zeit klar, dass es bald einen neuen Krieg geben wird. Die Hitleristen forderten Revanche für den Schandfrieden nach dem verlorenen großen Krieg, denn sie wollten verlorene Regionen im Osten und Elsass-Lothringen zurück, was ohne Gewalt nicht möglich war.
Von der Partei versprach ich mir zu dem größere Chancen auf eine erneute Unabkömmlichkeit. Und die bekam ich auch, bevor das Desaster am 1. September 1939 begann. Mir blieb aus den gleichen Gründen wie schon 1914 die Front erspart und obendrein sogar die Evakuierung nach Mainfranken.
Berta und ich blieben in der nahezu menschenleeren Stadt. Meine Aufgabe war es, als Bestatter bei eventuellen Todesfällen der zivilen Notbesatzung der Stadtverwaltung und bei Bedarf dem Militär zur Verfügung zu stehen. In den Lagern der Garnison auf der Husterhöhe waren für den Fall eines französischen Angriffs 500 einfache Särge aus Tannenholz deponiert.
Bis zur deutschen Offensive im Mai 1940 glich Pirmasens einer verlassenen Goldgräberstadt wie sie in den Berichten über den Wilden Westen der USA beschrieben wird. Zwischen den Pflastersteinen wuchs das Gras in nie gesehene Höhen, die Tiere des Waldes eroberten das an die menschliche Zivilisation verlorene Terrain zurück. Füchse machten sich am Müll in den Hinterhöfen zu schaffen. Wildschweine pflügten auf der Suche nach Fressbarem den Kirchgarten von St. Pirmin um.
Nazis bringen Hunger und Zerstörung
Schon Ende Juni war der Erbfeind Frankreich unterworfen, die Wehrmacht marschierte nach einem achtwöchigen Feldzug stolz durch Paris. Welch ein triumphaler Waffenstillstand im Wald von Compiègne! Die Pirmasenser kehrten aus der Fremde in ihre Stadt zurück.
Der Jubel und die Paraden auf den Straßen und Plätzen im schwarz-weiß-roten Fahnenmeer waren Pflicht, auch ich lief mit. Aber in den meisten Familien der Horebstadt ging die Furcht vor der Armut um. Denn an der hohen Arbeitslosigkeit änderten die großen Siege nichts. Im Gegenteil, die meisten Großaufträge von Wehrmacht und Partei gingen an Schuhhersteller in Baden-Württemberg. Pirmasenser Fabrikanten schickten immer öfter ihre Arbeiter nach Hause, weil das Leder fehlte.
Die Nazis hatten schon in den 1930er Jahren mehr oder weniger heimlich die Planwirtschaft eingeführt. Es gab Behörden, die den Unternehmen die knappen Rohmaterialien zuteilten. Der Nazi-Staat war so bankrott wie korrupt. Der gemeinsam begangene, buchhalterisch organisierte Raubmord von Stadtverwaltung, Geschäftsleuten und Partei an den Juden verhalf einzelnen Tätern zu neuem Reichtum.
Die Staatskasse blieb jedoch klamm. Unserm Weinlieferanten lieh ich das Geld für die Flucht nach London. Der Dreyfus-Jud besaß ja nichts mehr, und hier hatten sie ihn mitten auf der Hauptstraße beinahe totgeschlagen. Aber das war noch vor dem Krieg, nach dem sie die Synagoge in der Alleestraße angezündet hatten.
Luftalarm: Fetthans im Leichenkeller
Seit 1943 häuften sich die Luftalarme. Es kam vor, dass die Sirenen mehrmals am Tag heulten. Sogar in der Nacht weckten uns die Flugzeuge. Auch wenn keine Bomben fielen, mussten wir eilig in Nachbars Keller laufen. Dort saßen wir dann in stickiger Luft neben der Kohle und bei Leuten, die wir nicht mochten. Sie störten sich unverhohlen daran, dass sich mit einer soviel älteren Frau verheiratet war, und dazu noch kinderlos.
Geschäft und Wohnung lagen in der Schäfergasse. Eng und schmal zog sich diese Straße vor dem Fuße des Berges Horeb von Norden nach Süden hin. Unter dem Kopfsteinpflaster grenzte roter Sandstein an Lehmboden. Unser Haus stand auf der westlich gelegenen Lehmseite, unweit der Schuhfabrik Rheinberger.
Das war ein gewaltiger Industriebau, in dessen direkter Nachbarschaft die Arbeiter der Gebrüder Fahr das Leder gerbten. Auch der Bahnhof lag gleich um die Ecke. Ich rechnete fest damit, dass diese Industrie- und Bahnanlagen bevorzugte Ziele der feindlichen Bomber sein werden, so sie denn tatsächlich angreifen, was ich für unausweichlich hielt.
Da der Keller den Leichen gehörte und bisweilen unangenehm nach Verwesung roch, verfügten Berta und ich über keinen eigenen Luftschutzraum. Die Eingänge zu den öffentlichen Bunkern befanden sich in der Schlaugasse und an der Nagelschiedsbergtreppe. Beide lagen etwa 800 Meter entfernt. Für mich als kerngesunder Mann von Mitte 40 war diese Entfernung damals wie heute leicht zu überwinden. Berta jedoch war mittlerweile 59 Jahre alt. Sie drohte unter der körperlichen und seelischen Last zusammenzubrechen.
Flieger zielen auf Bahnhof und Fabriken
Bertas Beschwerden wurden immer stärker und kamen bald regelmäßig. Jeden zweiten oder dritten Tag klagte sie stundenlang über Schmerzen in den Schultern und im Rücken. Der Gang zur Toilette auf der halben Etage bereitete ihr größte Mühe. Die Ärzte untersuchten und untersuchten. Doch so sehr sich die Mediziner auch mühten, sie fanden keine Krankheit, die sie kannten und behandeln konnten.
Sie nahm nun vorbeugend Opiumtropfen. Damit sie sich bei Alarm weniger Schmerzen hatte und sich schneller bewegen konnte. Um der gefährlichen Nähe der Fabriken und Bahngleise zu entkommen, mietete ich eine Wohnung am Stadtrand. Dort waren wir zwar keineswegs sicher. Dennoch war die Wahrscheinlichkeit eines Bombentreffers deutlich geringer.
Die Katastrophe vom 9.August
Eine Woche vor Weihnachten 1943 zogen wir mit wenigen Koffern und den nötigsten Haushaltsgegenständen um. Das Haus in der Kirchbergstraße wurde in den 1920er Jahren errichtet und gehörte einem älteren Lehrerehepaar namens Bauer.
Wir bewohnten die beiden provisorisch möblierten Zimmer im Erdgeschoss. Das Haus der Bauers besaß eine Dampfheizung und einen weiteren, im Pirmasens der Kriegsjahre seltenen Luxus: Jede der drei Etagen war mit einem eigenen Bad einschließlich Toilette ausgestattet. Hinter dem Haus pflegte das Lehrerehepaar mit großer Sorgfalt einen Garten mit Mirabellen, Kirschen, Zwetschgen und Äpfeln, in den Beeten gediehen Kohlköpfe, Tomaten und Stangenbohnen.
Bis auf den Schutzraum war der Keller voller Gläser und Tröge mit eingemachtem Obst und eingelegtem Gemüse. Ein phantastischer Vorrat, der in Kriegszeiten den Unterschied von Verhungern und Überleben bedeuten konnte.
Der Blumenschmuck zum totalen Krieg
Ich half den beiden, so oft es meine Zeit erlaubte. Dabei entdeckte ich meine Freude an der Gartenarbeit. Herrlich, wie im Frühjahr die Obstbäume blühten und dufteten, wie die das erste Grün aus den Beeten spross und nach und nach die Zeit der Ernte nahte. Am 6. Juni landeten die Alliierten in der Normandie, was Herr Bauer schon am frühen Morgen auf unerlaubte Weise aus unter dem Dach versteckten Radio erfahren hatte
An diesem Mittwoch, es war der 9. August 1944, standen die amerikanischen Truppen vor LeMans und machte ich mich schon früh um 6 Uhr auf den Weg ins Geschäft. Am Vortag und in der Nacht hatte es geregnet, am Morgen hingen noch Wolkenfetzen am sonst klaren Himmel. Es sah so aus, als nehme der Hochsommer doch noch einen Anlauf.
Kaum in der Schäfergasse angekommen, heulten die Sirenen. Ich ließ es darauf ankommen, ignorierte den Alarm und begann meine Arbeit in Leichenkeller. Zwei Beisetzungen standen für den Nachmittag auf dem Kalender, der Fuhrmann war bestellt und ich musste noch die Särge schmücken. Blumen und Gebinde hatten die Trauernden selbst besorgt und gebastelt, denn die Gärtnereien arbeiteten nur eingeschränkt. Blumenschmuck und Krieg passen schlecht zueinander, vor allem dann nicht, wenn der Feind vor allen Türen steht.
Vor dem Bunker setzt es eine Ohrfeige
Gegen 10 Uhr ertönte der Voralarm. Schon wenige Minuten später folgte der Hauptalarm. Der geringe Abstand war ungewöhnlich. Ich begab mich rasch nach oben, trat vor die Tür. Das noch ferne Brummen der Motoren war zu hören, näherte sich, wurde immer stärker, plötzlich flaute es ab, um dann noch deutlicher und mächtiger zurückzukehren. Wie alles von Menschen Erdachte hatte auch der Angriff seine Ordnung.
Sodann bildeten die Flieger eine Angriffsformation. Alles stehen und liegen lassend rannte ich los, im Laufschritt die Schäfergasse entlang. Die Turmuhr der Lutherkirche zeigte kurz nach 10 Uhr. Ich beschleunigte meinen Schritt. Dabei schoss mir der Gedanke an den Landgrafen durch den Kopf, der im Altarraum unter einer dicken Sandsteinplatte ruhte. „Der hat es gut, der bekommt nichts mit.“
Das Brummen schwoll zum ohrenbetäubenden Dröhnen an. Die Leute rannten panisch zu den öffentlichen Bunkern. Den Schutzräumen in den Kellern misstrauten sie. Zu grausam waren die Geschichten von den elendig Verreckten, Verschütteten, Erstickten und bei lebendigem Leib Verbrannten, wie sie aus anderen Städten zu hören waren.
Eine Frau im Hauskittel zerrte einen weinenden, vielleicht zwölfjährigen Jungen hinter sich her und schrie: „Mach schnell, lauf jetzt, sie kommen, sie kommen!“ Ein Mann drehte sich unvermittelt um und schlug den Jungen mit der flachen Hand ins verrotzte und tränenüberströmte Gesicht, brüllte: „Mach, was deine Mutter sagt!“
Bomben fliegen wie Krähenschwärme
Ich rannte weiter zum Landauer Tor, bog in die Simter Straße, in den Schillerring und erklomm mit kraftvollen Dreistufenschritten die Treppe am Richard-Strauß-Weg hoch zur Kirchbergstraße. Endlich, vor Anstrengung völlig außer Atem und patschnass durchgeschwitzt, stand ich vor dem Haus der braven Bauers und wagte den Blick nach oben. Dort rauschte, pfiff, und raste unter den Flugzeugen etwas über mich hinweg, das wie Krähenschwarm aussah.
Dieses schwärmende Etwas waren die Bomben aus dem Bauch der Flieger. Ein schier unbeschreibliches, nie zuvor gehörtes Geräusch begleitete jeden Einschlag, das klang wie ein kurzes, schrilles Seufzen. Fontänen aus Staub und Rauch stiegen auf, quollen zwischen der Sonne und der Stadt wie hohe, schwarzbraune Giftpilze empor, aus denen Brocken von Stein, Dachziegel, Holz und Glas auf die Erde niederprasselten. Ich rannte hinein ins Haus, in den Keller und schloss die Tür.
Berta stirbt während des Alarms
Herr und Frau Bauer hatten zur Beleuchtung des Kellers vier Kerzen auf dem eisernen Reifen entzündet, der vor Weihnachten mit Tannenzweigen umflochten als Skelett des Adventskranz‘ in der guten Stube diente. Frau Bauer wendete ihr Gesicht zur Dunkelheit und sprach mit gepresster Stimme, so als schämte sie sich ihrer Worte: „Fetthans, Berta ist tot!“
Herr Bauer berichtete, was geschehen war: „Als der Alarm losging, ist Berta nicht herunter gekommen. Also sah ich nach. Mein Rufen blieb ohne Antwort. Die Tür war nur angelehnt, ich ging hinein. Berta lag im Bett und bewegte sich nicht mehr. Kein Lebenszeichen, kein Puls, keine Atmung. Ich fürchte, sie hatte wieder einen ihrer Anfälle.“
Als die zweite Welle des Angriffs begann, verließ ich den Keller und begab mich hinauf in unsere Wohnung. Berta lag auf ihrer Seite des schmalen Doppelbettes und lächelte. Im Tode war meine geliebte Frau noch schöner, die Anspannung des Schmerzes war dieser erlösten Heiterkeit gewichen, die nur das Sterben zu schenken vermochte. Ich küsste sie auf den kühlen Mund, erhob mich vom Bettrand und trat ans Fenster.
Flammen über St.Pirmin
Die brennende Stadt lag unter dichtem Rauch. Blitzende Schläge heftiger Explosionen ließen sogar dieses entfernte Haus erzittern. Die Gläser im Schrank klirrten und zersprangen. Minuten später zerriss ein Windstoß den schwarzen Schleier. Nun war die Aussicht auf St.Pirmin frei. Welch ein verstörender Anblick! Das Gotteshaus brannte lichterloh. Die Flammen loderten wild in den Himmel und verbrannten die letzten Gebete um Frieden.
Die Spitze des rechten Turms neigte sich. Das Gebälk bog sich in der Hitze. Dann stürzte die Spitze Funken stiebend in die Tiefe. Wenn dieser Krieg meine Stadt vollends zerstörte, werde ich, der Fetthans, dann endlich sterben dürfen? Doch die Sehnsucht nach Erlösung brachte mich sogleich in tiefste Gewissensnot. War es mir als ewiger Fetthans denn erlaubt, diese liebliche Hoffnung zu nähren? Durfte ich jetzt gehen? Obwohl nicht feststand, dass dies das Ende von Pirmasens bedeuten würde?
Die Stadt überlebte den noch folgenden Angriff vom 5. Januar. Bald folgte am 17. März das schwerste aller Bombardements. Dennoch blieb ich der Pflicht zum Leben gehorchend. Und nun schreibe ich als Fetthans Pirmasens für diese Seiten.
Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart
Bericht und Fotos: Fetthans Pirmasens