Backblech: Wer ist hier ein Faschist?
Auf jeden Fall habe ich jetzt großen Hunger. Sobald ich am Abend in meiner Hütte ankomme, werde ich eine große Pizza zubereiten. Ganz für mich allein. Zuerst werde ich das Blech aus dem Backofen ziehen. Dann muss ich natürlich noch hoffen und nachschauen, ob das Blech auch tatsächlich noch so sauber ist wie ich es hinein geschoben habe.
Denn es könnte in der Zwischenzeit durchaus von hungrigen Nachbarn benutzt worden sein. Weil die Türen unserer Hütten niemals verschlossen sind, können sie alle hinein. Sofern sie es für ihre eigene Pizza brauchen, dürfen sie das Backblech aus meiner Hütte holen. Falls ich nicht zuhause sein sollte, wenn sie das Backblech für ihre Pizza brauchen, müssen sie auch nicht fragen.
Daher kann es natürlich vorkommen, dass das Backblech verschwunden ist, wenn ich hungrig nach Hause komme und mir eine große Pizza zubereiten will. Allerdings habe ich diesen Umstand bisher noch nie erlebt. Das Backblech war stets an seinem angestammten Platz im Backofen zu finden. Also genau an der Stelle, wo ich es bei meiner Rückkehr zu finden erwartet habe.
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Nein. Das Backblech gehört nicht mir
Trotzdem sich das Backblech zwar in meinem Besitz befindet, nicht aber zu meinem Eigentum zählt, erhebe ich gelegentlich zumindest sprachlich einen gewissen Anspruch darauf. Jedenfalls nenne ich es manchmal unwillentlich „mein Backblech“. Obwohl es in Wahrheit gar nicht meines ist. Obgleich mein auf diese Weise erhobener Eigentumsanspruch zweifelsohne dem Unbewussten geschuldet ist, lösen meine ohne weiteres Nachdenken ausgesprochene Worte bisweilen Streitigkeiten aus.
Beispielsweise führte der ohne Bedenken und ohne jede böse Absicht dahin gesagte Ausspruch „du kannst mein Backblech gerne haben“ am Sonntag vor Weihnachten zu einem überaus heftigen Disput. Dabei ging es nicht um eine große Ofenpizza zum abendlichen Gottbier-Schoppen. Vielmehr beabsichtigte Jana, eine im Herbst in die Pirmasenser Kolonie übersiedelte Lehrerin aus Hessen, für ihre Kinder süße Plätzchen aus selbstgemachtem Mürbeteig zu backen.
Wiewohl Jana an diesem kühlen Vormittag im Dezember eher zurückhaltend an die Tür meiner Hütte pochte, klang ihre Forderung ungleich vehementer als das Klopfen kurz zuvor. Nachdem ich die Tür für Jana geöffnet und die in der Dezemberkälte frierende Frau herein gebeten hatte, fragte sie forsch: „Wo ist das Backblech?“ Darauf folgte das Kommando: „Ich brauche es jetzt, hol‘ es mir und gib es her!“
Um 10 Uhr morgens will Jana das Backblech
Da ich meinen Schlaf-Wach-Rhythmus üblicherweise am Stand der Sonne und keinesfalls an der Uhr ausrichte, befand sich mein Bewusstsein gegen 10 Uhr morgens an diesem trüben, schummerigen Sonntagmorgen noch im durchaus angenehmen Schlafmodus. Somit den Träumen weitaus näher als den Erfordernissen der sogenannten Realität, antwortete ich der mich anstarrenden Jana: „Du kannst mein Backblech haben. Es ist im Ofen!“
Doch ehe ich die wenigen Schritte zum Ofen machen und das Backblech herausholen konnte, schrie sie mich heiser an: „Das ist nicht dein Backblech! Das Backblech gehört uns allen!“ Als ich die Backofentür herunter klappte, kam Jana heran, beugte sich nach unten und sah kritisch in die Backröhre. Was sie dort sah, missfiel Jana offensichtlich sehr. Jedenfalls steigerte sie ihre Wut noch weiter.
Wut schreit schrill
Sofern der Grad der Wut an der Schrille der Schrei messbar sein sollte, erreichte Jana nun ihre höchste, persönliche Wutgrenze. Denn ihre Kehle und ihr weit aufgerissener Mund stießen plötzlich einen Würgeschrei aus. Sodass ich beinahe fürchtete, Jana würde jetzt direkt vor meine Füße kotzen. Aber das geschah nicht. Was sie hervor würgte war dies: „Da sind ja noch die Reste von gestern drin!“
Damit hatte Jana zweifelsfrei Recht. Denn auf dem Backblech im Ofen lagen noch ein angebissenes Stück Pizza und die gebrauchten Backpapierblätter. Theophil Meisterberg war am Vorabend bei mir zu Besuch. Dabei aßen wir Pizza, tranken Gottbier und hörten Rockmusik aus den 1970er Jahren. Weil es draußen fror und wir mit besoffenen Köpfen keine Lust hatten, den Müll auf den Komposthaufen und in die Papiertonne zu sortieren, legten wir den Kram kurzerhand in den Backofen. Aber warum regte sie sich so sehr auf? Dafür sah und sehe ich keinen vernünftigen Grund.
Ein zischender Befehl
Jedenfalls verließ sie mit einem noch immer Wut verbrannten Befehl zischend meine Hütte. Kurzum: „Du hast eine halbe Stunde. Dann stehst du mit dem sauberen Backblech vor meiner Hütte!“ Danach, von Janas Wut vollends meinen Träumen entrissen, zog ich das Backblech aus dem Ofen. Später scheuerte ich das Blech blank und brachte es ihr hinüber. Aber wozu diese Wut?
Trotzdem ich es versuche, verstehe ich Janas Wut bis heute nicht. Schließlich weiß ich es doch: Dass das Backblech kein Privateigentum ist. Auch wenn mir mein Unbewusstes immer wieder einen sprachlichen Streich spielen mag.