Ausgangssperre: Momente zwischen Ohnmacht und Wut
Überall patrouillieren Feuerwehr, Polizei und Militär. Die Staatsgewalt setzt die Ausgangssperre mit Ermahnungen, aber auch mit Strafen durch. Bei mir lösen die bewaffneten in Uniform zunächst ungute Gefühle aus. Es überkommen mich Gefühle der Ohnmacht und der Wut. Die Ausgangssperre zwingt die Farbe Rot vor meine Augen. Rot wie das Coronavirus auf den Bildschirmen.
Sie tragen Pistolen am Gürtel, schusssichere Westen über der Brust, Atemmasken im Gesicht und schwere Stiefel an den Füßen. Ihre Autos und Busse versperren Straßen, Plätze und Kreuzungen. Die Stadt ist von Menschen entleert. Wo das neue Leben des Frühlings erblühen sollte, glänzt nur noch das kalte Grau des nassen Asphalts.
Statt Vogelgezwitscher drängen schrille Martinshörner zu Gehör. Grelles Blaulicht überstrahlt die gelben Kelche der jungen Osterglocken. Die Ausgangssperre diktiert jetzt die eisernen Regeln. Davor flieht die Freiheit. Denn die Freiheit ist scheu und zart. Sie versteckt sich hinter dicken Mauern. Ob sie am Diktat zerbricht?
Springe zu einem Abschnitt:
Ausgangssperre löst anfangs Wut und Empörung aus
Also stehe ich daneben und schaue diese Bilder an. Je länger ich dort schaue, umso mehr verwandeln sich die Bilder in Zeichen, in Signale. Sie rufen mich. So sehr ich mich auch winde, der Ruf des Gesehenen trifft, durchdringt und ergreift. Die behelmten Ritter sind bewaffnet. Die sind viele. Ich bin unbewaffnet. Ich bin nur einer. Daher bin ich schwach und ausgeliefert.
Das Gefühl der Ohnmacht weckt zuerst die Angst. Dann erwacht ihre Schwester, die Wut. Mit der Wut gewinnt ein uralter Teil der Seele die Macht über meinen Verstand. Es ist die Vernunft des Kriegers. Ich denke an Widerstand und Kampf.
Eine Empfindung von Solidarität? In diesem Moment? Nein. Nicht einmal in homöopathischen Dosen. Aber ich passe mich an. Doch jedwede Anpassung und Gehorsam sind einzig das Resultat der übermächtigen Gewalt. Ich füge mich der Übermacht. Auch das bewirkt die Vernunft des Kriegers. Bloß keinen aussichtslosen Kampf beginnen. Das bedeutet aber auch: Setzt diese Drohung eine Sekunde aus, zeigt sie eine Schwäche, dann endet der Gehorsam sofort.
Die Übermacht erzwingt den Gehorsam
Jeder dieser modernen Siegfrieds hat eine schwache Stelle. Dreht sich einer um, bin ich der neue Hagen. Das Lächeln auf den Lippen, die Faust in der Tasche. So gehe ich an den Helden der Ausgangssperre vorbei. Weil sie mich nun auf offener Straße bemerken, sprechen sie mich an. „Halt! wo wollen sie hin?“ Es ist eine junge Frau von der Feuerwehr. Weil die Wut in mir brodelt, wende ich meinen Blick zu Boden. Die Maskierte soll die Aggression nicht erkennen.
„Ich bin auf dem Weg nach Hause“, sage ich und lüge. Ich sehe die Frau nicht an. „Ja, das ist richtig so. Gehen sie nach Hause und bleiben sie dort“, weist mich die Feuerwehrfrau an. Mit einem Nicken zeigte ich ihr meine Zustimmung und entferne mich. Allerdings in die Gegenrichtung meiner Hütte. Gleich darauf halte ich hinter einer Ecke wieder an. Durch eine Schaufensterscheibe schaue ich noch einmal hinüber und beobachte die Ausgangssperre.
Die erste Wut weicht dem Nachdenken
Noch während mich meine Schritte durch die menschenleere Stadt tragen, verblasst die Wut nach und nach. Die kriegerische Vernunft von Flucht und Angriff verliert langsam ihre Kraft. Dafür meldet sich eine andere Vernunft zu Wort. Es ist die Vernunft meiner Erziehung. Die Vernunft meiner Mitwelt und ihrer Erfordernisse. In dem Augenblick ist auch meine Solidarität mit den Gefährdeten und dem Staat wieder da.
Denn ich gehöre keinesfalls zu jenen, die Gefahren des Coronavirus herunterspielen. Allerdings beschäftigen mich noch ganz andere Fragen. Nämlich: Wie lassen sich die Erkenntnisse der Virologie auf eine vielfältige Gesellschaft von Einzelwesen übertragen?
Oder sind das naturwissenschaftliche Denken von Ursache und Wirkung und die auf Gefühlen und Bedürfnissen beruhende Verhaltensweisen von Menschen am Ende doch zu unterschiedlich? Vor allem, wenn sie in der Ausgangssperre aufeinander prallen?
Die Virologie empfiehlt das Richtige. Aber da ist noch ein Problem
Nach dem Studium der einschlägigen Internetseiten und etwas Forschungsliteratur erscheinen mir die von Virologen geforderten Maßnahmen logisch und sogar zwingend. Klar. Mit Hilfe der Ausgangssperre können sie die Verbreitung des Virus tatsächlich verlangsamen. Sobald sich die Menschen nicht mehr nahe kommen, kann das Virus nicht weiter übertragen werden.
Aber die Übertragung der biologischen Erkenntnisse auf eine Gesellschaft von Individuen bleibt trotzdem zerbrechlich. Denn die Gesellschaft funktioniert nun mal ganz anders als ein Virus. Menschen verhalten sich höchst selten nach der Logik von Ursache und Wirkung. Menschen handeln unlogisch.
Sie werden von Gefühlen Impulsen und Bedürfnissen gelenkt. Das geht nicht mit naturwissenschaftlichem Denken nicht zusammen, steht sogar im offenen Widerspruch. Folglich bedeutet die Ausgangssperre, dass dieser Widerspruch nur durch Zwang überbrückt werden kann. Deswegen sind die Uniformierten auf der Straße. Sie erhalten den Zwang aufrecht.
Ja, es erscheint mir zum Schutz der Gesundheit aller durchweg folgerichtig und angebracht, wenn die Polizei anrückt und die hundert Gäste einer Corona-Party aus Stadtpark scheucht. Dort kann die Ausgangssperre mit ein wenig pädagogischem Geschick sogar sinnvoll vermittelt werden. Die jungen Leute können ihr Bier auch nach der Krise zusammen trinken.
Was, wenn die Ausgangssperre länger dauert?
Ob die Ausgangssperre jedoch auf engstem Raum zusammengepferchten Familien nach zwei, drei oder gar vier Wochen noch vermittelbar sein wird, bezweifle ich. Dann nämlich wird der Druck spürbar, weil elementare Bedürfnisse nach Licht, Luft und Nahrung nicht mehr wie gewohnt erfüllt werden können. Die Isolation führt zu Einsamkeit und Ohnmacht. Die Wut kommt unweigerlich wieder hoch. Dann gibt es Streit in der Enge der Wohnung. Die Wut verdrängt am Ende die Einsicht in die Notwendigkeit der Ausgangssperre.
Dann wirkt der Zwang nicht mehr. Die Wut drängt die Leute heraus aus ihren Wohnungen und Häusern. Denn sie glauben, dass sie nichts mehr zu verlieren hätten. Draußen treffen sie auf die Uniformierten. Sobald die Wut und die archaische Vernunft des Kriegers die Oberhand gewinnen, werden Feuerwehr, Polizei und Militär als Feinde wahrgenommen.
Dann ist Schluss mit dem Applaus, die Solidarität mit den Schwächeren und Kranken ist vorbei. Endet die Ausgangssperre trotz des Protests nicht, wird sich die Wut in nackter Gewalt entladen. Wie wusste schon Dr. Freud? Die Firnis der Zivilisation ist dünn … Aber es kann auch ganz anders kommen. Denn auch für mich sind Menschen unlogisch und unberechenbar. So wie ich selbst.
Fotostrecke: Ausgangssperre in Pirmasens
Fetthans Pirmasens