Der dicke Busen von Frau Scherer

Nach Frau Scherers dickem Busen, gefährlichen Männern und brutalen Halbstarken musste lag noch die die Nagelschmidsbergtreppe auf dem Weg zum Spielwarenladen in Pirmasens.
Die Nagelschmidsbergtreppe in Pirmasens.

Es ist mir nichts geblieben von dieser Stadt, das nicht in einen Karton passen würde. Außer vielleicht die Erinnerung an Frau Scherers dicken Busen. Der passte in keinen Karton.

Dabei habe ich meine Kindheit und Jugend in Pirmasens zugebracht. Früh schon, als die Eltern es nicht bemerkten, habe ich mich davon gestohlen. Heimlich und ganz leise schlich ich zur Tür hinaus. Dann habe ich erkundet, was weit weg, mir fremd und unbekannt gewesen ist. Straßenzüge voller Angst und böser Männer. So klang die Warnung meiner Mutter.

Aber da waren auch noch die Frauen, die an den Fenstern lagen. Sie stützen ihre Arme angewinkelt auf einem Kissen und schauten erwartungsvoll heraus. Keine Kamera hätte besser wachen können. Frau Scherer hieß eine von ihnen. Die Wagenstraße hat sie kontrolliert. Oben auf dem Horeb, wo ich mit Eltern und Geschwistern wohnte.

Busen wie ein Kartoffelsack

Über ihren Unterarmen quoll der dicke Busen hervor. Fett wie ein Kartoffelsack. Das Kissen darunter war grob bestickt mit Rosenmuster. Zum Schmucke ihrer Bequemlichkeit. Das Kissen könnte wohl eine der wenigen ihrer Annehmlichkeiten gewesen sein. Denn die Wohnung im Erdgeschoss war winzig und laut.

„Was machst denn du da?“, fragt Frau Scherer mit dem dicken Busen neugierig. „Wo ist deine Mutter?“ Nicht in hochdeutscher Sprache hat Frau Scherer geredet. Nein. Sie sprach im Pfälzer Dialekt. Was die Sache für mich nur noch schlimmer machte. Denn so war die Dicke richtig ernst zu nehmen.

Frau Scherer kannte fast alle Kinder auf dem Horeb. So heißt jenes Viertel, das man auf einem Berg gebaut hat. Der hieß ursprünglich Hochrech. Weil aber der Pirmasenser Dialekt das Wort stauchte, heißt der Hügel heute Horeb. So wie der berühmte aus der Bibel.

Eine Antwort hat Frau Scherer von mir jedenfalls keine bekommen. Schnell weg. Lieber gleich weiter gehen. Was wäre gewesen, wenn sie mich in den Keller gesperrt hätte? Einfach bloß schrecklich war diese Vorstellung. Denn aus dem alten Gemäuer roch es immer muffig. Wie in einem alten Schrank. Einsam und verlassen hätte ich im Verlies gesessen. Womöglich für Stunden. Bis meine Mutter gekommen wäre. Und die hätte mich sicher zu allem Elend ausgeschimpft.

Doch Frau Scherer mit dem dicken Busen war bei weitem nicht das einzige Hindernis auf meinem Weg. Da waren Straßen mit schnellen Autos. Erst links geschaut. Dann nach rechts. Und los! Ein Sprint brachte mich geradeaus auf die andere Seite. „Steige nur nicht in fremde Autos. Da sitzen böse Männer drin. Die bringen kleine Jungens um!“ Diese Warnung hatten die Eltern mir strengstens eingeschärft.

Die Angst vor den bösen Männern

In Pirmasens waren zu dieser Zeit drei Kinder verschwunden. Zwei Jungen und ein Mädchen. Einfach so von der Straße wurden die Kleinen weggeholt von den bösen Männern. Abgegriffen, weggezerrt und nie mehr gefunden. Mann hatte ihnen sicher Schlimmes angetan.

Und wirklich! Mich hat in diesen Kindertagen einer angesprochen. Ich weiß sogar noch ganz genau, welches Auto der gefahren hat. Denn mit Autos kannte ich mich aus. Ein hell brauner VW 1600 Variant war das. Mit Heckmotor. Der Mann sagte, ich müsse doch nicht laufen. Mit ihm könnte ich viel bequemer fahren. Und Schokolade und ein Matchbox-Auto könnte ich als Zugabe auch noch haben. Da bin ich schnell gelaufen und habe laut geschrien.

Als ich über die Herzogstraße drüber war, musste ich durch die Spitalstraße. Dort standen drei große Linden auf dem Platz neben dem Haus meiner Großeltern. Die Alten sollten mich nicht sehen auf meinem heimlichen Weg in die Stadt.

Gegenüber an der Ecke war die Bäckerei, aus der es verlockend nach süßem Gebäck duftete. Ich umfasste mit Hand mein Taschengeld in der Hosentasche. Doch ich hatte wichtigeres damit vor. Weshalb ich um so flinker am Platz mit den Linden vorbei musste. Was nicht immer so leicht gelang.

Halbstarke verteilen Ohrfeigen

Denn unter den Linden hielten Jugendliche ihre Treffen ab, die sich nicht selten einen Spaß daraus machten, die kleineren Kinder zu schikanieren. Den Wehleidigen verpassten sie die eine oder andere Ohrfeige, bevor sie den Schwächeren ihre kleinen Habseligkeiten wegnahmen. Also spähte ich vorsichtig wie ein Indianer um die Ecke. Die Halbstarken, wie mein Vater die Jugendlichen zu nennen pflegte. Aber die waren an diesem Tag zum Glück nicht da. Nur die Mädchen spielten im Gebüsch.

Aufatmen. Ich konnte weiter in Richtung Hauptstraße gehen, hüpfen und laufen. Jetzt galt es, die lange Treppe hinunter zu steigen. Noch oben, vor dem ersten Schritt, wurde mir fast schwindelig. So steil fielen die schmalen Stufen den Horeb hinab. Ihr Ende war von kaum zusehen. Das eiserne Geländer teilte die Treppe mittig in links und rechts. Die rechte Hand glitt über das kalte Eisen.

Sonnenlose Schluchten

Also wagte ich den ersten Schritt. Die Stufen waren kurz. Die Schritte griffen tief. Ein Absatz um den anderen. Immer weiter abwärts. Nur nicht zögern. So schaffte ich die Spital-Treppe und gelangte in die Horebstraße. Eine Schlucht aus Häusern. Dort war es finster, sonnenlos und laut. Schuhfabrik mit Exhauster, der Atem roch nach gegerbtem Leder.

Nun führte mich die Judengasse hinab bis zur Alleestraße. Links herum, über die Ampel zur Nagelschiedsberg-Treppe, so ging ich weiter. Und wieder führten Stufen hinunter, wieder eine Schlucht. Manche Treppen waren aus Granit, andere aus Beton und wieder andere wieder aus rotem Sandstein. Das Flickwerk wackelte unter den Füßen, wippte hin und her. Aber es trug mich doch.

Die kleine, große Glückseligkeit

Endlich kam ich an. Da war es, mein Ziel. Ich betrat den Spielwarenladen. Dort legte ich brav mein Taschengeld auf den Tisch. Seit Ostern hatte ich für diesen Augenblick gespart. Jetzt bekam sich endlich was ich wollte. Ein Matchbox-Auto. Ein Ford Taunus. Oder war es ein Jaguar? Wie konnte ich bloß die Marke dieser großen Glückseligkeit aus kleinem Metall vergessen? Viele der kleine Wagen liegen noch heute in der Schachtel auf dem Speicher. Ich werde sie bald herunter holen.



Claude Otisse

Der Journalist und Fotograf Claude Otisse nennt sich Superior und ist Mitglied der Geistlichen Hütte der Kolonie der Auserwählten in Pirmasens.

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