Ein Ehepaar am Ende der Zeit
Man sagt dem Ehepaar nach, sie hätten ein gutes Leben gelebt. Aber man weiß auch, dass dieses gute Leben bald vorüber sein wird. Dass jetzt die Zeit für das Ehepaar gekommen sei, die letzten Dinge zu regeln. Sie wissen, was die anderen sagen. Ob sie sich daran stören, weiß ich nicht. Darüber schweigen sie beharrlich.
Die Rede ist von Paul und Paula*, die ich seit über 30 Jahren kenne und sehr zu schätzen lernte. Als ich den beiden zum ersten Mal begegnete, waren sie so alt wie ich heute. Also Anfang bis Mitte 50. In den ersten Jahren verliefen die Besuche nicht selten ruhelos. Es kam vor, dass wir fast bis zum Zerwürfnis zerstritten auseinander gingen. Sie stießen sich an mir ab.
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Das alte Ehepaar und der rote Zottelbart
Ich verstand die beiden nicht und sie verstanden mich nicht. Eine andere Sprache, andere Symbole. Ich trug den roten Zottelbart und die alte Motorradjacke. Für das Ehepaar waren dies Symbole jugendlicher Unreife und Rebellion. Aber was noch schlimmer war: Ich hielt es mit den Grünen und der SPD.
Ich demonstrierte für den Frieden und behauptete steif und fest, dass dies der Weg der Christen sein müsse. Was wohl der spitzeste Stein des Anstoßes gewesen sein dürfte. Denn Christsein bedeutete für das alte Ehepaar: Ein jeder auf seinem Platz. Und dieser sollte keinesfalls eine Demo sein.
Doch mit den Jahren beruhigte sich der Streit. Die Meinungsverschiedenheiten hinterließen zwar noch kleine Glutnester. Die loderten hier und da bisweilen auf, bevor sie schließlich ganz erloschen.
Bald schon feierte Helmut Kohl als Bundeskanzler der deutschen Einheit seinen größten Erfolg. Der CDU-Politiker, den wir spöttisch Birne nannten, zog alsbald von Bonn nach Berlin. Da hätte es im Meinungsstreit zwischen mir und dem alten Ehepaar eigentlich so richtig krachen müssen. Doch es kam anders.
Ein neues Leben bringt die Wende
Unsere Tochter kam zur Welt. Das Kind zog fortan die ungeteilte Aufmerksamkeit von Paul und Paula auf sich. Der Streit um die Politik war Vergangenheit. Was seit dem bei den Besuchen im Haus des alten Ehepaares zählte, war nur noch dieses Kind.
Dem alten Ehepaar waren eigene Kinder nicht vergönnt. Trotzdem oder deswegen erfreuten sich Paul und Paula an unserem Glück. Wenn auch nur für einige wenige Stunden. Mit dem Säugling auf dem Arm kam den beiden die Erinnerung an die schlechte Zeit. So nennen die Alten jene Jahre der inneren und äußeren Not nach dem Krieg. Trümmer, Besatzung, Hunger und die Sorge um die kleinen Geschwister. Die waren damals kaum älter als unser Kind.
Ich begann zögernd zu begreifen, was die beiden in ihrem Leben erreichen wollten. Aufbauen und bewahren. Das war ihr Ziel. Sie strebten nach Sicherheit. Alles, das auch nur so aussah, als könnte es den erreichten Wohlstand in Frage stellen, erschien in ihren Augen gefährlich.
So hat das Ehepaar zugepackt. Die Arbeit war so heilig wie das Haus, der Garten und die Möbel. Müde sind die beiden nicht geworden, oder haben sie die Erschöpfung geschickt verborgen? Selbst als Rente und Pension kamen, haben sie für eine Weile weitergemacht und sich in der Kirche eingebracht. Ihr Liebstes war das Reisen. In die Berge sind sie gewandert und zur Bildung um die Welt gereist. Auch sonst bereisten sie alle ihre Wege nur zu zweit, sie waren nur als Paar zu denken.
Ein verfluchter Tag
Ein guter Ruhestand. So sollte er aussehen. Wäre nicht dieser verfluchte Tag gekommen. Sie stand an der Waschmaschine mit seiner Gartenhose in der Hand, als ein Schmerz in der Brust die Frau erstarren ließ. Sie konnte noch mit leiser Stimme rufen. Er hat es gehört zu Glück und den Notarzt alarmiert: Herzinfarkt. Er hat es nicht ertragen, wäre fast erstickt an diesem Anblick. Sein Schmerz war größer als das Matterhorn, das er einmal erstiegen hatte.
Die Ärzte konnten sie noch retten. In der Klinik schlossen sie die Schläuche an. Dann brachen die Mediziner das Brustbein auf. Sie öffneten den kranken Körper und reparierten das schwache Herz. Jetzt geht das Leben weiter, sprach die Hoffnung. Aber nichts ist geblieben wie zuvor. Es war alles anders.
Im Haus bliebt alles an seiner Stelle, sie räumen nicht mehr um. Wie gerne haben sie früher ihre Umgebung gestaltet. Aber jetzt? Die Möbel, die Bilder an der Wand sind erstarrt wie im Museum. Nur die Mattscheibe flimmert noch und taucht die Uhr in blaues Licht, sobald es draußen dunkel wird.
Gestritten wird jetzt nicht mehr. Ich bin zu Besuch und habe die Kamera dabei. Die Räume ihres Lebens fotografieren, ein Fotoprojekt. Ich habe gefragt. Sie haben zugestimmt. Aber sie wollen nicht aufs Bild. Und natürlich frage ich, wie es ihnen geht. „Wir sind es leid“, sagt sie. Dann nennt sie mich Jürgen. Doch ich heiße Claude. Das hat sie vergessen.
*Namen auf Wunsch des Ehepaares geändert.