Flucht in die Laube
Was außer der Flucht ist mir nun beschieden? Bleibe ich, wird Claude Otisse mich töten. Fliehe ich aus diesem Haus, verliere ich meinen Besitz. Was ich auch unternehme ist zu meinem Nachteil und Schaden. Ich kann meine Würde nicht bewahren, ohne dass ich sie aufgebe. Beharre ich auf einem würdigen Leben mit einem Dach über dem Kopf, bringt er mich um. Fliehe ich in die Stadt, liege ich im Dreck, während er meine Sachen einbehält. So sieht sie in Wahrheit aus, die Gerechtigkeit seiner Tugend.
Ein jeder auf der Flucht vor Gewalt und Willkür kennt ihn wohl. Ich meine diesen Satz der Weisheit: Es ist besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu begehen. Doch gilt der Satz noch, wenn Recht zu Unrecht und Unrecht zu Recht geworden ist? Otisses öffentliches Mordversprechen hebt Gottes Ordnung aus den Angeln, vernichtet Gebot und Sünde. Der Unterschied zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse wird zur Laune des Augenblicks.
Als Journalist pocht Otisse auf seine Pressefreiheit. Doch er tötet die Meinungsfreiheit, sobald sie sich gegen seine Meinung wendet. Kritik ist das Verbrechen, für das ich nun mit dem Tode büßen soll. Er jedoch will nicht sühnen. Die Sühne seiner Taten erlegt er anderen auf. Recht und Moral sind für Claude Otisse nichts weiter als ein nützlicher Besitz. Dessen bedient er sich frei nach Wunsch, Bedarf und Laune.
Nicht nur, dass er mich erschlagen will. Claude Otisse und die frittierte Maria haben auch noch meine monatliche Rente gestrichen. Der Geldbote hätte längst kommen müssen. Also rief ich bei frittierter Maria in Karlsruhe an. Die war kurz angebunden und äußerst unfreundlich. Sie gab mir eine Telefonnummer aus ihrer Verwaltung. Dort eröffnete mir eine Sachbearbeiterin, dass die Zahlungen bis auf Weiteres eingestellt sind. Mein Guthaben ist eingefroren. Mein Konto in Liechtenstein gesperrt.
Meine Ersparnisse aus dem Versteck im Wald hat Otisse an frittierte Maria übergeben. Sie legte die das Geld bei einer Bank in Liechtenstein an. Das Konto trägt Marias und Otisses Namen. Aber mir die Rente zu streichen und die Ersparnisse zu rauben, hat ihnen nicht gereicht. Sie haben mich auch noch beim Amt angezeigt, weil ich neben der privaten Rente das Arbeitslosengeld bezogen habe. Die Behörde ermittelt jetzt wegen Betrugs gegen mich. Es ist also nicht nur Claude Otisse hinter mir her. Auch die Polizei wird mich bald suchen. Mir bleibt nur die Flucht.
Springe zu einem Abschnitt:
Die Flucht führt in eine Gartenlaube
Welch ein Absturz! Noch im Januar konnte ich mir einen Mallorca-Urlaub mit Erika leisten. Aber jetzt stehe ich völlig mittellos da. Nicht einen Cent habe ich in der Tasche. Auch Erika geht nicht ans Telefon. Oder sie lässt sich verleugnen. Sogar bei ihr muss Claude Otisse seinen Einfluss geltend gemacht haben. Eine andere Erklärung habe ich nicht für ihre Ablehnung.
Was also bleibt mir noch als die Flucht? Ich fliehe also. Ich fliehe aus Otisses Haus. Hinaus aus dem finsteren Tal der Schatten. Schnell ist zusammengerafft, was in den Rucksack passt. Dann laufe ich um mein Leben. Dennoch kommt Claude Otisse nicht ganz ungeschoren davon. Wenigstens seine Kamera und den Laptop nehme ich mit. Der Computer erlaubt es mir, weiterhin über mein Schicksal zu berichten. Denn ich will und werde Claude Otisses Wut zum Trotz die Wahrheit nicht verschweigen.
Claude Otisses brüchige Fassade
Ich weiß viel über ihn. Alle seine persönlichen Dokumente habe ich gesichtet. Seine Emails gelesen und seine Zeugnisse studiert. So kam mir so manche pikante Einzelheit zur Kenntnis. Deren drohende Veröffentlichung macht ihn unweigerlich erpressbar. Seine polierte Fassade wird mit lautem Krachen zusammenstürzen. Er wäre auf einen Schlag genauso obdachlos und vogelfrei wie ich.
Doch im Hier und Jetzt zählt nur die Flucht. Zuerst sehen, wo ich unterkomme. Meine Flucht führt mich zu Fuß und schwer bepackt mit dem großen Rucksack übers Land nach Pirmasens. Ein Bekannter wies mich auf eine leere Laube im Kleingarten vor der Stadt hin. Die Hütte liegt am Stadtrand. Das Grundstück ist groß und von außen nicht einsehbar. Allerdings gibt es dort weder fließendes Wasser noch eine Heizung. Trotz der Widrigkeiten werde ich das Versteck einstweilen beziehen. Dann werde ich versuchen, durch geschickten Diebstahl etwas Essbares zu beschaffen.
Theophil Meisterberg