Frühling in der Kolonie der Hütten
Lächelnd hebt der Frühling seine Hände. Die schöne Zeit jubelt bis ins lichte Blau. Die Freudenwelt erblüht aufs Neue. Mit wärmender Kraft wendet sich die Sonne. Das Gestirn will mich mit der Welt versöhnen. Der Sonnenstern will mich heiter und freundlich stimmen. Ich fühle mich gut in der Pirmasenser Kolonie. Ich hüpfe albern vom einem Fuß auf den anderen.
Die Not schmilzt rückwärts. Das kalte Elend tropft murmelnd zurück ins Dunkel der Unergründlichkeit. Die Gegenwart erwacht zu neuem Leben. Doch die Erinnerung will es nicht glauben. Sie kann nicht vergessen. Warnend schreitet sie ein. Das Gewesene stellt sich zwischen Jubel und Überschwang.
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Die Erinnerung will den Frühling betrügen
Die Erinnerung pocht heiß in den Schläfen. Das Gewesene stampft mit den Füßen. Es lärmt mit hellen Glocken. Das Alte warnt: Die Zukunft ist ein böser Hinterhalt. Eine unsichtbare, nicht auszudenkende Falle. Des Kommenden unzerbrechliche Absicht ist es, mich um die Gegenwart zu betrügen. Die Erfahrung lehrt beflissen: Die Sonne wird sich verstecken. Die sanfte Wärme wird aufs Neue der grimmigen Kälte weichen. All die Mühe um das Hier und Jetzt wird sich als vergebens erweisen. Das eben noch Geschaffene wird vergehen als wäre es nie ins Werk gesetzt. So geht die Vision des Gewesenen. Sie will den Frühling um die Wärme betrügen.
Und doch, es ist wahr. Sie haben mich nicht meines Geldes nicht beraubt. Keine Greifer haben sie gegen mich gehetzt. Sie haben mich nicht an die Behörde verraten. Erika hat mich nicht verlassen und Claude Otisse wollte mich nicht mit der Axt erschlagen. Otisse will mir und der Welt versichern, er habe in einem Gefühl des Zornes und der Wut heraus diese Drohung ausgesprochen. Doch er würde diesen Worten niemals Taten folgen lassen. Das versicherte er.
Dem Feind die Maske entrissen
Aber wer über jemandem die Vernichtung ersinnt, die Wurzeln seiner Existenz zu kappen droht, kann nicht zugleich der Freund dieses Jemandes sein. Ein Freund verhält sich zum Wohl des Freundes. Ein Feind sucht die Vernichtung des Feindes. Wenn er nicht Freund sein kann, dann ist er Feind. Claude Otisse trägt gerne und kleidsam die Maske eines Freundes. Aber er ist es nicht, denn hinter ihr verbirgt er seine List. Eine Täuschung, die dem Getäuschten mit blanker Waffe in den Rücken springt.
Diesem nun endlich demaskierten Feind ist nicht zu trauen. Zurück zu ihm soll sich gehen? Wo er unter seiner selbst gewählten Einsamkeit leidet und das Ende herbei wünscht? Wo er nicht wahr haben will, dass Worte Taten sind und ihre Folgen haben? Nein, dieses Wagnis ist zu groß. Er wird es mit einem neuen Hinterhalt versuchen. Wieder und wieder wird er es tun.
Ich werde ein Flüchtling bleiben. Mein Asyl finde ich in der Kolonie. Sie nehmen mich dort freundlich auf und heißen mich willkommen. Obwohl mir dieses Pirmasens noch unheimlich ist. Doch voller Neugier will ich die Straßen und Ecken erkunden. Ich werde die Bewohner dieser Stadt erkennen. So will ich ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft erforschen und ihre Sprache erlernen. Damit mir das Unheimliche heimlich wird.
Der Luxus der alten Gartenhütte
Die kleine Hütte aus Sperrholz und Dachpappe ist nun mein wundervoller Unterschlupf. Das Häuschen besitzt einen größeren Raum mit einem Tisch mit zwei Stühlen, einer Eckbank, einer über Stahlfedern gepolsterten Liege. Daneben steht der über 100 Jahre alte Ofen. Er taugt zum Heizen, Kochen und Backen. Ich besitze einen Schrank und zwei Fenstern. Zwei gestrichene Klappläden aus Holz halten die Irrlichter der Nacht von mir fern.
Nach hinten abgeteilt liegt der Schlafraum mit einem Bett und einem Nachttisch. Es gibt elektrischen Strom, fürs Licht und für den Computer. Die Elektrizität erlaubt es, abends lange zu lesen und zu schreiben. Das Wasser trage ich in Eimern, Kannen und Töpfen das Wasser vom draußen angebrachten Hahn herein. Das Plumpsklo befindet sich 40 Meter entfernt am Ende des Grundstücks. Darüber steht einer starke, deutschen Eiche. Trotz aller Einfachheit ist das Leben hier ein Genuss. Ich schlafe gut und tief bis weit in den Morgen.
Das Glück der Entlassenen
Die Bewohner dieser Kolonie sind allesamt Entlassene. Entlassen aus der Psychiatrie, aus dem Gefängnis, aus der Arbeitswelt, aus der Fremdenlegion, aus aufgelösten Ehen und Familien. Es mögen 400 bis 500 Menschen sein, die hier mit mir den Frühling erleben. Anfangs noch von Entbehrungen gedrängt fanden sie in den Hütten am Rande der Stadt einen gnädigen Schlafplatz. Doch mit der Zeit verwandelten sie die Kolonie zu ihrer Heimat, zum wahren Zuhause. Sie waren endlich in einer Gegenwart angekommen. Des Jetzt erlaubt diesen Menschen, die zu sein, die sie sein wollen.
Bericht: Theophil Meisterberg
Foto: Claude Otisse