Gottes Menschenrecht: Fleisch und Schwefelsäure
Gott und Menschenrecht? Eine demokratische Abstimmung war das durchaus. Ganz sicher sogar. Die Entscheidung fiel mit großer Mehrheit. Es gab nur eine Gegenstimme. Das Verfahren lief absolut korrekt. Lisa Berg führte den Vorsitz ohne Fehl und Tadel.
Sogar Nicht-Vorstandsmitglieder durften frei sprechen. Was in religiösen Vereinigungen bekanntlich alles andere als selbstverständlich ist. Es gab eine offene Debatte. Danach fiel die Entscheidung. Aber Pfarrer Theophil Meisterberg ist kein Demokrat. Prinzipien sind im wichtiger als Abstimmungen. Deswegen kann er diese Niederlage nicht ertragen.
Darf er mit Gewalt gegen die Mehrheit vorgehen? Gibt es ein gerechtfertigten Widerstand? Eine vielleicht sogar zwingend gebotene Rebellion gegen eine demokratische Entscheidung? Darf er das Menschenrecht erkämpfen? Theophil ist sich dessen sicher. Er sieht sich sogar zum Kampf verpflichtet. Also stritt er gleich nach der Vorstandssitzung gegen die Mehrheit.
Springe zu einem Abschnitt:
Theophil wütet in der Geistlichen Hütte
Theophil wütete heftig in der neuen geistlichen Hütte der Pirmasenser Kolonie. Er lief hoch erregten Schrittes von einer Wand zur anderen, trat die neuen Stühle, den neuen Eichentisch, leerte eine Flasche Gottbier nach der anderen und stampfte die Kippen auf den frisch gewachsten Dielen aus.
Brandflecken des des Zorns: „Wir sind Christen, wir sind die Auserwählten! Wir dürfen Franziskus nicht deshalb töten, weil er unseren Interessen im Wege steht! Du sollst nicht töten, steht geschrieben! Ihr missachtet das Menschenrecht!“
Augenarzt Hunde-Tommy und Lukas, der Prophet verharrten schweigend auf den Plätzen, die sie schon während der eben zu Ende gegangenen Vorstandssitzung eingenommen hatten. Die Männer starrten unentwegt auf die Tischplatte. Keiner wagte es, den Blick zum tobenden Theophil zu heben.
Der aufgebrachte Theologe brüllte ihn ihren Rücken. Er schrie gegen ihre gesenkte Stirn. Er spuckte die Worte in ihre gebeugten Nacken: „Ihr seid Verräter! Nichts als dreckige Verräter! Widerliche, hinterfotzige Feiglinge! Ihr geht vor dem Unrecht in die Knie! Ihr habt es nicht verdient, in Pirmasens zu leben, unserem neuen Jerusalem!“
Der große Mut des kleinen Propheten
„Jetzt reicht es, Theophil“, sagte Lukas, der Prophet. Der junge Mann fasste all seinen Mut zusammen. Dann erhob er sich und stellte sich Theophil in den Weg. „Wir haben dafür gestimmt, weil Lisa Berg die besseren Argumente hatte.“ Obwohl Lukas, der Prophet um einiges kleiner gewachsen und vielleicht 30 Jahre jünger als Theophil, bremste er den ums Menschenrecht schreienden Wüterich trotzdem aus. Theophil ließ eben noch zum Schlag erhobene Faust sinken, sah Lukas lange in die Augen und sprach nur ein Wort: „Ja!“
Dann ließ sich Theophil auf einen Stuhl fallen. Das hölzerne Möbel ächzte und knackte unter dem Gewicht des großen Mannes. Kaum hatte er den für ihn reservierten Platz am Tisch eingenommen, wechselte der zuvor noch wütende und tobende Mann abrupt die Stimmung. Nachdenklich saß er nun da.
Es schien ihn nun doch zu reuen, wie sehr er seinen Novizen und den Propheten angebrüllt und beleidigt hatte. Auch er missachtete das Menschenrecht. Und tatsächlich. Theophil sprach ein weiteres, aus seinem Munde bisher ungehörtes Wort: „Entschuldigung!“
Die schöne Wohnung ist ein Menschenrecht
Auf Anweisung der Vorsitzenden Lisa Berg bauten die Zimmerleute keine einzelnen, frei stehenden Hütten für die Geistlichen der Pirmasenser Kolonie. Sie erschufen eine besondere Architektur des Zweckmäßigen. Die geistliche Hütte ist vom Grundriss eines Sterns gezeichnet, mit fünf ausgehenden Strahlen.
In dessen Mitte befindet sich der achteckige Besprechungsraum, der Theophil, Hunde-Tommy und Lukas, dem Propheten zugleich als Küche und Gemeinschaftsraum dient. An dessen Seiten sind die drei Zimmer, das Bad und die Toilette angeschraubt. Eine schöne Wohnung haben, auch das ist ein Menschenrecht.
Die Herrscherin von Pirmasens
Doch auch der Hüttenneubau geriet zu Theophils Unmut, ist ihm zum Ärgernis geworden. Er hätte lieber seine eigene Hütte bewohnt, ohne Bad und Toilette mit den anderen teilen zu müssen. Doch mönchische Teilen nimmt er als solches hin. Aber Lisa Bergs eigenmächtige Entscheidung über seinen Kopf hinweg weckt seinen Zorn.
Lisa fragt nicht, Lisa informiert nicht. Lisa entscheidet einfach so, je nach dem, wie sie es gerade für richtig hält. Denn die Vorstandsfrau hält große Macht im Verein für Europäische Gemütlichkeit in ihren Händen. Lisa Berg regiert die Pirmasenser Kolonie als Leviathanin. Sie ist streng, aber gütig zu den Ihren, unnachgiebig und grausam zu den Feinden.
Der Rebell unter Gottes Auserwählten
Theophil Meisterberg ist der Rebell unter Gottes Auserwählten. Seine Rebellion bemächtigt sich der Gesetze, fordert sie dort einzuhalten und bricht sie woanders gleichermaßen. „Ich gehe ein paar Schritte spazieren“, sagte er und verließ die geistliche Hütte, zog die Tür hinter sich zu, fand sich im kühlen Herbstregen wieder. Der Sturm flog frei hinweg über dieses Land, das in der Gerechtigkeit Gottes erblühen soll.
Befreiungsaktion fürs Menschenrecht
Der schmale Pfad führte ihn an der Hütte des Scharfschützen vorbei, an der Buchshecke entlang bis hinters Haupthaus, wo Lisa Berg mit ihrer Ehefrau Saskia residiert. In dessen Keller befinden sich die finsteren Zellen. wo versklavte Gefangene ihren eigentümlichen Geruch von Schweiß und Angst verbreiten.
Dort musste Franziskus eingesperrt sein, glaubte Theophil. Er stieg eine schmale Treppe hinunter bis zur Eisentür, die er unverschlossen fand. Theophil betrat entschlossenen Schrittes die finstere Katakombe aus Beton und Stahl.
Eine Windböe warf die Eisentür ins Schloss. Der Sturm setzte jetzt auch Theophil gefangen. Von innen fehlte jeder Griff, jede Klinke. Nur das kalte, harte Eisen konnte er ertasten, der große Mann vermochte seinen Körper kaum zu wenden zwischen den engen Betonwänden. Da der Weg zurück versperrt blieb, bewegte er sich eine Fußlänge um die andere vorwärts.
Lisa Berg empfängt den Rebellen im Kerker
Der erlösende Lichtschein kam von rechts. Ein schwacher Strahl. Zu schwach, um die Unterwelt vollständig zu erhellen. Doch Theophil erkannte immerhin, was unmittelbar vor ihm lag. Das Licht kam aus dem Zellentrakt. Dort gilt kein Menschenrecht.
Als er zu dessen Tür gelangte, sprach eine Frauenstimme: „Hallo Theophil! Ich habe dich erwartet. Komm her! Wir müssen reden!“ Lisa Berg hieß ihn, auf dem alten Strafbock vor den offenen Zellentüren Platz zu nehmen. Sie selbst ließ sich an dem kleinen Schreibtisch mit der Lampe nieder, deren warmer Lichtschein Theophil den Weg gewiesen hat.
Hinrichtung im Säurebad
„Wo ist Franziskus?“
„Weg!“
„Weg?
„Ja, weg.“
„Ihr habt ihn umgebracht!“
„Ja, haben wir. Du bist zu spät gekommen, Theophil.“
„Hat er gelitten?
Franziskus glaubte an ein Rollenspiel
„Ja, natürlich hat er gelitten. Er saß in einem Käfig, der langsam in konzentrierte Schwefelsäure eintauchte. Bis die Maschine ihn absenkte, glaubte Franziskus noch immer an ein neues Rollenspiel. Er ließ sich freudig in den Stollen hinab führen. Wir spielten zum Abschied den Schlager ,Atemlos durch die Nacht‘ von Helene Fischer. Doch es dauerte lange, bis das Leben aus seinem zerfallenden Körper wich. Danach hat der Scharfschütze die Lösung ph-neutral verdünnt und mit dem Abwasser in den Blümelbach geleitet. Franziskus, der ehemalige städtische Beamte Manfred Kupfer, ist aus der Welt geschafft.“
Willkür ist Gottes Menschenrecht
„Lisa, was ist mit dem fünften Gebot: Du sollst nicht morden?“
„Theophil, wir haben Franziskus nicht ermordet. Wir haben einen Feind getötet. Die Gebote Moses und das Liebesgebot Jesu Christi gelten für die Auserwählten. Es ist Endgericht. Wer jetzt noch meint, seinem Götzen abzuschwören, kommt zu spät. Wir sind die Handwerkerinnen des Gottesreiches auf Erden. Gott ist die Herrin, der wir dienen. Gott kennt kein Menschenrecht. Das Recht der Menschen ist Gnade oder Ungnade. „Hier, Theophil. Das ist das letzte Hemd des Franziskus. Verbrenne es! Und jetzt geh!“
Theophil verließ dass unterirdische Gefängnis auf dem selben Weg wie er gekommen war. Mit dem Unterschied, dass jetzt die Lampen brannten im engen Flur und ihm den Weg zeigten. Lisa öffnete die Eisentür mit einem elektrischen Summer. Draußen atmete er die feuchte Herbstluft. „In diesen Keller will ich nie mehr hinein!“