Pseudo-Jesus spricht die Kinder an
Eine Dornenkrone aus Gummi und eine Lendenschürze aus Wolle. Besser ausgedrückt: Der Kerl aus dem Wald bei Eppenbrunn ist ein Pseudo-Jesus, eine pure Fälschung. Wir wollen nun herausfinden, ob und was überhaupt an diesem merkwürdigen Menschen echt ist. Jedenfalls ist seine Erscheinung sicher eine bloße Kostümierung. Doch welchem Zweck mag sie dienen? Was versteckt er dahinter?
Springe zu einem Abschnitt:
Was ist die Wahrheit des Pseudo-Jesus?
Also mag dieser unter der irrigen Vermutung seiner Armut in die Pirmasenser Kolonie eingeschleppte Einsiedler vieles sein. Zu viel, als dass wir es erraten könnten. Das Gute, dessen Größe wir nicht einmal zu buchstabieren wagen, verfängt jedoch keinesfalls in seiner Staffage aus Lendenschürze und Dornenkrone. Somit bleibt uns nur die Frage: Was ist die Wahrheit?
Sofern die Frage nach der Wahrheit im Allgemeinen sinnvoll gestellt und beantwortet werden kann, sind wir – ich, der Fetthans und der Scharfschütze – auf dem Weg zum Einsiedler. Zu Fuß gehen wir an der großen Buchshecke entlang in Richtung Blümelstal hinab. Dann lenken wir unsere Schritte auf den Pfad zu den Kinderhütten hinter dem Rosengarten. In voller Blüte steht dieser wundervolle Garten. Der Duft der Blüten will uns alles Elend der Welt dort draußen vor den Toren der Pirmasenser Kolonie vergessen machen.
Hinter dem Rosengarten spricht er die Kinder an
Umso mehr ich in diesem Garten verweilen möchte, bedauere ich die vorwärts drängende Bitterkeit unserer Aufgabe. Denn schon erblicke ich diesen Lügen-Jesus von Eppenbrunn. Wieder versammelt er die Kinder um sich. Wiederum spricht er zu ihnen. Ist das ein Hinweis?
Vielleicht ist der Einsiedler ein gescheiterter Pädagoge. Dann zöge es ihn nach langer Abstinenz wieder zum verlorenen Amte. Aber sogleich verwerfe ich diesen Gedanken. Schließlich ist jeder Erziehung das Scheitern untrennbar eingeschrieben. Trotzdem maskieren sich diese Erzieher und Lehrer erfahrungsgemäß eher nicht als als Jesus Christus hinterm Altschlossfelsen in Eppenbrunn.
Nein, die meisten der gescheiterten Pädagogen bleiben ihrem Amte alleine wegen der Pensionsansprüche treu. Obzwar durchaus noch ein anderes der Einsiedelei vorausgegangenes Schicksal denkbar wäre: die gewaltsame Entfernung aus dem Bildungsbetrieb.
Weil sich jemand den Kindern aus sexuellen Absichten nähert, oder eine von Vorgesetzten unerwünschte politische Meinung vertritt. Doch dem Gehör nach scheinen auch diese Möglichkeiten auf diesen Einsiedler nicht wirklich zu passen.
Geld erlöst die Welt
Nachdem wir bei der Kinderhütte angekommen sind, frage ich den Einsiedler: „Was machst du hier?“ Nach kurzem Zögern schickt er die Kinder zum nahe gelegenen Fußballplatz. Danach wendet er sich sogleich mir und den Scharfschützen zu. Überdies bedeutet er uns mit einer kleinen Fingergeste, wir mögen uns doch an seiner Seite im Gras zu unseren Füßen niederlassen.
„Seht ihr das nicht? Diese Kinder verschwenden ihr Leben. Statt sich für den Wettbewerb zu rüsten, gammeln sie den halben Tag herum. Damit verschenken sie wertvolle Zeit und versäumen ihre Zukunft. Bedenkt, was ihre eure Kinder lehrt. Wer täglich zehn Euro durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag ohne Lohn den anderen hilft, wirft fünf Euro sinnlos weg. Damit die Kinder eine Gelegenheit zum Geldverdienen gewinnen, müssen sie stärker werden als die anderen. Das lehre ich die Kinder.“
(Pseudo-Jesus)
Ruft der echte Jesus Christus zur Faulheit auf?
Solange erklärt sich der Einsieder, bis ich ihn endlich unterbreche.
„Einsiedler, du bist hier in der Pirmasenser Kolonie. Wir sind alle arm aus freiem Entschluss. Wir folgen dem Bibelwort: Schaut die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und eure himmlische Mutter nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?“
Der Einsiedler grinst breit unter seiner weichen Dornenkrone und erwidert:
„Das war früher und ist altes Denken. Bevor wir die Vernunft zur Wissenschaft machten, erkannten bereits die Mönche in den Klöstern den Fehler eurer Religion. Deshalb behielten sie die biblischen Erzählungen in der stillen Meditation. Jedoch beruhte der Erfolg der Klöster auf unternehmerischem Handeln. Die frommen Menschen brauten Bier und verkauften allerlei Nützliches. Jedenfalls verschwendeten sie nicht ihre Zeit und stellten sich dem Wettbewerb. Sie taten es zum Ruhm ihres Gottes, wir tun es zu Ehren der freien Vernunft der guten Zahl. Aber ihr in der Pirmasenser Kolonie lebt in Sünde. Weil ihr die menschliche Natur nicht überwinden wollt, sondern Trägheit und Faulheit kultiviert.“
(Pseudo-Jesus)
Pseudo-Jesus will Personalvorstand werden
„Ein vernünftiger Rechner willst du sein, Einsiedler? Weshalb trägst du die Zeichen des leidenden Jesus Christus am Leib und versteckst dich im Wald?“
„Mach die Augen auf, Fetthans! Dornenkrone, Lendenschürze und Einsiedelei sind eben keine Zeichen für einen Pseudo-Jesus. Vielmehr sind es die Insignien des Leidens für Disziplin, Härte und Zielstrebigkeit. Genau diese Tugenden teile ich mit eurem Jesus. Denn sobald ich Personalvorstand meines Konzerns geworden bin, werde ich die Anleger und Aktionäre aus dem Mangel erlösen. Somit teile ich dieses Streben nach Höherem mit diesem Jesus aus der biblischen Geschichte. Er wollte die Menschheit erlösen – ich will es auch. Aber nach den Regeln des Verstandes. Zwei Monate bleibe ich in Eppenbrunn. Danach setze ich meine Mission in Stuttgart fort.“
(Pseudo-Jesus)
Der Scharfschütze will den Manager sofort erschießen
Nunmehr hoch erzürnt angesichts der Rede des Einsiedlers von Eppenbrunn, dieser grotesken Parodie allen Glaubens, dieser lächerlichen Figur des absurden Pseudo-Jesus, erhebt sich der Scharfschütze aus dem Gras und zieht seine Waffe aus dem Gürtel. Der Pseudo-Jesus folgt ihm und steht dem Bewaffneten gegenüber. Dennoch zeigt der Einsiedler keine Spur von Angst. Vielleicht ahnt er in diesem Augenblick, dass der Scharfschütze zumindest in meiner Gegenwart nicht abdrücken würde. An Stelle von kalt schweißiger Todesangst beschreibt der Pseudo-Jesus nun einen weiten Bogen zu den Kindern hin.
Rückkehr des Pädophilen nach Eppenbrunn
Im Grunde genommen hätte ich den Scharfschützen gewähren lassen können. Was wäre schon dabei, einen verkommenen Menschen wie diesen Einsiedler und Pseudo-Jesus vom Angesicht der Erde zu tilgen? Dennoch befehle ich dem wackeren Soldaten: „Nimm die Waffe runter und steck sie ein. Dann weise deine Kämpferinnen an, diesen Gottes-Verräter zu ergreifen und dahin zu bringen, wo er hergekommen ist: nach Eppenbrunn an den Altschlossfelsen!“
Bericht: Fetthans
Digitales Bild: Fetthans