Schuhkauf gescheitert: Ein Grund zum Suizid?
Der Erwerb neuer Schuhe bedeutet für mich eine lästige Pflicht. Der nachzukommen, schiebe ich so lange hinaus wie es nur irgendwie geht. Erst wenn der Zustand meiner Fußbekleidung jenen Grad der Auflösung erreicht, der unüberhörbar nach Erneuerung schreit, denke ich daran, einen Schuhladen aufzusuchen.
Genauer: Wenn die Sohle zu mehr als die Hälfte vom Schaft weg hängt, das Oberleder ausgerissen ist und die Zehen durch die Kappe lugen. Dann sage ich mir fluchend: „Scheiße, ich brauche schon wieder neue Schuhe!“
Springe zu einem Abschnitt:
Wann der Schuhkauf unumgänglich wird
Der nunmehr kaum noch aufschiebbare Schuhkauf löst in mir Gefühle von Angst und Panik aus. Denn Schuhgeschäfte zähle ich zu den Orten tiefer Ängste und böser Vorahnungen. Schuhgeschäfte besitzen nach meinem Empfinden eine Aura wie für andere Leute vielleicht Krankenhäuser, Zahnarztpraxen, Gerichtssäle, Gefängnisse, Polizeireviere, geschlossene Psychiatrien oder schlicht dunkle Ecken im Park. All diese unguten Gefühle drängen mich zum Hinausschieben des letztlich doch unvermeidlichen Schuhkaufs.
Als überaus hilfreich beim Aufschieben erweist sich eine preiswerte und leicht zu handhabende Erfindung namens Sekundenkleber. Ist die wundervoll Substanz gut ausgehärtet, hält sie die Sohle noch für eine Weile am Schaft. Einen meiner Schuhe hielt dank Sekundenkleber noch weitere vier Jahre. Schließlich riss das Leder, aber der Sekundenkleber war immer noch bombenfest. Aber auch diese Treter landeten in der Mülltonne.
Abschiedsbrief berichtet über einen Besuch im Schuhgeschäft
Der an Ostern im Pfälzer Wald suizidierte Eisverkäufer berichtet im Abschiedsbrief an seine Ehefrau von seinem gescheitertem Schuhkauf in Mannheim. Ich glaube zwar nicht, dass dieses Erlebnis die einzige Ursache seines Freitods wäre. Da er es jedoch in seinen letzten Worten notierte, muss das Ereignis eine Bedeutung bei seiner Entscheidung besessen haben. Zumal ihn der gescheiterte Schuhkauf zwei Wochen später nach Pirmasens führte. Vor dort aus machte er sich auf dem Weg in den Wald, wo er später den Freitod am Schlussstrick vollstreckte.
Er schrieb an seine Ehefrau (Auszug aus dem Abschiedsbrief):
… Als ich in Mannheim auf der Café-Besitzer-Tagung war, wollte ich in der Mittagspause noch schnell ein Paar neue Schuhe für ins Geschäft kaufen. Du weißt ja, wie schnell ich die Absätze krumm trete und die Sohle durch scheuere. Davon krieg‘ ich es wieder ins Kreuz. Also mussten neue Schuhe her.
Da ich schon mal in Mannheim war, schaute ich hier, wo die Auswahl größer ist als zu Hause. Im Hotel sagten sie mir, in der Innenstadt direkt um die Ecke gebe es mindestens drei oder vier Schuhgeschäfte.
In der Mannheimer City gibt es eine große Einkaufs-Galerie. Also ging ich hinein, weil ich mir dort die größte Auswahl erhoffte. Gleich betrat ich den ersten Schuhladen, den ich zu Gesicht bekam. Auch der ist riesig. Von der Fläche her bestimmt dreimal so groß wie unser Café, alles voller Regalreihen mit Schuhen aller Art. An den Wänden hängen Fotos von glücklichen Menschen in schönen Schuhen.
Plötzlich, wie aus dem Nichts gekommen, stand diese Frau vor mir. Sie war ihrer Aufmachung nach sicher keine einfache Verkäuferin. Ich vermute eher, sie ist die Chefin des Ladens. Anfang 50 vielleicht, im eleganten, grauen Business-Kostüm mit dunkelblonden Locken, Brille und blauen Augen. Sie fragte mich freundlich: „Was kann ich für Sie tun?“ Dann erzählte ich ihr, wozu ich die Schuhe brauchte, welche Probleme ich mit den Sohlen und Hacken habe, und warum ich in Mannheim bin. Ich hoffte, sie würde mir helfen, sie würde meine Not mit den Schuhen gut verstehen.
Blitzschnell hatte sie zwölf Paar Schuhe vor mir aufgereiht. „Setzen Sie sich bitte“, bat sie mich auf einen Hocker und reichte mir den Schuhlöffel. Ihre Hand deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die ersten drei Paare: „Die hier sind richtige Sportschuhe, die aussehen wie elegante Straßenschuhe. Dieses Modell ist in allen Größen in drei Farben vorrätig. Dann habe ich hier noch die klassischen Mokassins. Zwei Paar mit und ein Paar ohne Schnürung. Die nächsten drei Paare sind Herrenslipper ohne Absatz in Nubuk- und Glattleder. Außerdem kann ich ihnen auch die klassisch-eleganten Herrenschuhe von verschiedenen Marken anbieten.“
Die Auswahl in dem Laden war wahrhaftig groß. Ich begann angesichts dieser Fülle immer stärker zu schwitzen. Die Tropfen liefen an der Schläfe herunter. Einige Schweißtropfen fielen auf das Papier, welches die Dame aus den Schuhen gezogen hatte und das vor mir auf dem Boden lag.Ich zog meine alten Schuhe aus und begann die neuen auszuprobieren. Die klassisch-eleganten Herrenschuhe waren die ersten. Obwohl ich gleich wusste, die würde ich nicht kaufen. Die sahen schon so unbequem aus. Die Dame stand mir gegenüber und beobachtete mich aufmerksam. Als ich, um schneller fertig zu werden, mit nur einem Schuh umher gehen wollte, riet sie mir: „Bitte gehen Sie in beiden Schuhen. Denn Sie haben sehr unterschiedlich große Füße.“ Ich folgte ihrem Rat und setzte mich wieder auf den Hocker. Ich war gerade dabei, den linken Schuh des dritten Slipper-Paares anzuziehen, da hörte ich eine Stimme hinter mir flüstern:
„Kauf Deine Schuhe in Pirmasens!“
Ich erschrak zuerst, dann drehte ich mich nach der Stimme um. Aber ich konnte niemand sehen. Ich fragte die Dame, die mir noch immer gegenüber stand: „Ist da jemand hinter dem Regal?“ Sie antwortete: „Nein, da ist niemand. Im Augenblick sind wir die einzigen im Geschäft.“ So groß der Laden auch ist, die Luft hier war heiß und stickig. Mir fiel das Atmen schwer. Bestimmt lag das an den Ausdünstungen von Leder, Gummi und Klebstoffen. „Wollen Sie nun weiter anprobieren?“ Die Dame wurde ungeduldig. Sie sah zur Uhr und wippte mit dem Fuß, womit sie versehentlich den Stapel aus leeren Kartons zum Umfallen brachte.
„Die Slipper sind nicht die Richtigen“, sagte ich, als ich nach dem kleinen Rundgang wieder auf dem Hocker saß. „Dann die vielleicht Mokassins?“, fragte die Dame, jetzt mit deutlich gereiztem Unterton. Sie erschien mir jetzt mehr aggressiv als freundlich. Mittlerweile war meine Kleidung völlig durch geschwitzt. Hemd und Hose klebten auf der Haut. Und wieder vernahm ich diese Stimme:
„Kauf Deine Schuhe in Pirmasens!“
„Hören Sie das nicht? fragte ich die Dame noch einmal. „Da ist einer hinter dem Regal und befiehlt mir: „Kauf Deine Schuhe in Pirmasens!“ Die Dame schüttelte verständnislos den Kopf: „Da ist niemand! Aber wissen Sie was: Machen Sie was die Stimme hinter dem Regal sagt. Und waschen Sie Ihre Füße. Sie haben Fußschweiß, das ist ekelhaft. Ziehen sie jetzt Ihre alten Schuhe an und verlassen Sie mein Geschäft! Raus!“
Eilig schlüpfte ich in meine alte Schuhe. Dann verließ ich beinahe rennend das Schuhgeschäft. Mein Rücken begann zu schmerzen. Zurück im Hotel begab ich mich sofort unter die Dusche. Ich fühlte mich auch nach der Dusche noch schmutzig …
Aus dem Abschiedsbrief des suizidierten Eisverkäufers.
Quälende Schamgefühle nach dem misslungenen Schuhkauf
Die Dame in Grau beschämte den Eisverkäufer im Mannheimer Schuhladen zutiefst. Er wird sich wie ein Junge gefühlt haben, der von seiner Mutter zur Strafe vor seinen Freunden und Mitschülern bloßgestellt und gedemütigt wurde, indem sie ihn als Bettnässer hinstellte. Die Chefin des Schuhladens stellte den Eisverkäufer als einen unhygienischen Stinker hin.
Ihm blieb nur die Flucht ins Hotel. Aber die Scham konnte er nicht abwaschen. Sie klebte an ihm wie Pech. Welch eine Niederlage für einen erwachsenen Mann! Das muss für ihn ein Sturz ins Bodenlose gewesen sein. Vielleicht war es die Stimme aus dem Mannheimer Schuhladen, die ihn später nach Pirmasens trieb. Vielleicht war es das Gefühl von Niederlage und Scham, das ihn zum Suizid im Pfälzer Wald getrieben hat. Ob das so war, muss ich für den Augenblick offen lassen. Aber ist möglich, dass einer seiner Abschiedsbriefe darüber Aufschluss gibt.
Der Schuhstadt Pirmasens fehlen die Schuhgeschäfte
Doch zurück zu meinem eigenen Problem mit dem Schuhkauf. Mein erster Versuch, in der früheren Schuhmetropole Pirmasens ein Paar neue Sportschuhe meiner Lieblingsmarke für den Sommer zu erwerben, scheiterte kläglich. Zum Glück jedoch nicht so niederschmetternd wie der Versuch des Eisverkäufers. Mein Scheitern hat einen einfachen Grund: In der Fußgängerzone früheren Schuhmetropole Pirmasens war kein Schuhgeschäft zu finden. „Da müssen Sie nach Hauenstein fahren“, empfahl man mir in einem Kleiderladen.
Bericht: Theophil Meisterberg
Foto: Claude Otisse