Schuppen im Kaffee und günstig ins Paradies
Schuppen im Kaffee? Schuppen im Kaffee! Diese Frau ist so appetitlich wie die herab schneienden Hautteile. Nein. Ich sehe diese Person nicht gerne an. Mehr noch: Ihre körperliche Gegenwart bereitet mir ein tiefes Unbehagen.
Aber jetzt muss ich ihren Anblick doch ertragen. Obwohl ich genau diese Situation habe auf mich zu kommen sehen. Allein das Wissen um das Kommende schützt mich nicht. Weil Wissen niemand vor gar nichts schützt.
Jetzt sitzt sie ist hier am großen Eichentisch. Auf einem der gepolsterten Stühle macht sie sich breit. Dort an der Kante des Tisches verrührt sie ihre Schuppen gemeinsam mit der Milch, dem Zucker und dem Kaffee zu ihrem glitzernden Brei.
Den Kaffee hat Svetlana vorhin im Automaten gebrüht und der Bewerberin freundlich nach gegenüber gereicht. Obwohl auch Svetlana eigentlich nicht wollte. Erst nach längeren Diskussionen und inständigem Bitten übernahm sie dieses Interview an meiner Stelle. Dieser Erfolg war aller Mühe wert. Denn so muss ich der Schuppen-Frau wenigstens nicht direkt in die Augen blicken. Als Protokollantin ist mein Platz an der Seite des großen Eichentisches. Wo ich nichts weiter zu tun habe, als das Gehörte in den Computer zu tippen.
Schuppen, Schuppen, Schuppen. Trotzdem ich beharrlich nicht zu ihr hinüber schaue, sehe ich sie doch in meiner Vorstellung. Ich entkomme ihnen nicht, den kleinen, weißen Flecken im Kaffee. Ich höre den Löffel am Porzellan der Tasse klingeln. Ich höre, wie sie das Besteck zwischen Daumen und Zeigefinger hält und einen saugenden Strudel in die Flüssigkeit dreht, welcher die taumelnden Flocken in die Tiefe reißt.
Schlagartig endet das Rühren. Sie legt den Löffel zur Seite an den Unterteller. Dabei ertönt ein leiser Doppelklang. Eine Weile vernehme ich nur ihr Schnaufen, gleich ereilt mich dieses Schlürfen. Gefolgt vom saugenden Schmatzen eines nassen Kusses, als sie den Kaffee über die Lippen in die Mundhöhle saugt. Bevor sie die Tasse wieder auf den Teller stellt, wo ein Zuckerkristall knirschend nach Hilfe schreit. In der Stadt geht das Gerücht um, demnach die Herrin einer der prächtigsten Villen ihr eigenes Frühgeborenes gekocht und verspeist haben soll.
Springe zu einem Abschnitt:
Die Frau mit den Schuppen hat was drauf
Endlich zerbricht Svetlanas maskuline Stimme das erwartungsvolle Schweigen. Sie heißt die Bewerberin willkommen und bittet die Frau mit den Schuppen, sie möge jetzt erzählen, warum sie in die Pirmasenser Kolonie einzutreten wünscht. Die Bewerberin macht sich bereit, neigt Kopf und Oberkörper leicht nach vorne, räuspert sich und beginnt zu sprechen. Dabei zucken die Mundwinkel, während sich eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars in der Öse das rot-weiß gestreiften Halstuchs verfängt. Eine schmale Geste streicht das dunkelblonde Haar mühelos aus und glatt zurück in den wohlgeordneten Fall.
Ich bin Monika Breitbarth. 42 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Dennis ist zehn und kommt bald aufs Gymnasium. Philipp geht schon in die siebte Klasse. Vor zwei Jahren sind wir in das neue Haus am Horeb gezogen. Weil wir wollen, dass unsere Söhne nach belieben toben und spielen können, haben wir gleich zwei Baugrundstücke gekauft. Martin, also mein Mann, bekam von seinen Eltern einen Vorschuss auf sein Erbe. Außerdem verdienen wir beide sehr gut, besonders Martin. So konnten wir das Haus und den großen Garten auf einen Schlag bezahlen.
Die ersten Sätze der Bewerberin Monika Breitbarth über sich und ihre Familie.
Während die Frau mit den Schuppen beflissen über ihren Wohlstand schwadroniert, beobachte ich Svetlana. Sie, die für den bewaffneten Klassenkampf alles hinter sich gelassen hatte und nichts von alldem Luxus besaß, geschweige denn eine Familie, hört den Beschreibungen Monikas mit gleichmäßig freundlicher Mine zu. Svetlanas Züge verzeichnen nicht die geringste Regung von Neid und Missgunst. Selbst der fanatische Hass der früheren Terroristin versteckt sich unter ihrer blassen Haut.
Wie Monika Breitbarth ihren Mann kennen lernte
Vielmehr dürfte ein ehrliches Mitgefühl, eine wahre Empathie Svetlanas Lippen zu diesem milden und verständnisvollen Lächeln formen. Weswegen sie die Frau mit den Schuppen freundlich zum weitersprechen auffordert: „Monika, wo hast du denn deinen Martin kennengelernt?“
Das war bei einer Party an der Universität in Kaiserslautern im Sommersemester 2003. Das heißt, eigentlich war die Party schon vorbei und ich wollte mit meinen beiden Freundinnen nach Saarbrücken zurück fahren. Ich studierte Jura und bereitete mich gerade aufs Erste Examen vor. Aber das Auto sprang nicht an. Plötzlich war da einer, der helfen wollte und das auch konnte. Das war Martin. Er brauchte nicht lange, bis er den Fehler gefunden hatte und der Wagen wieder fuhr.
Die Telefonnummer tauschte er nicht mit mir, sondern mit der Freundin, der das Auto gehörte. Die beiden verabredeten sich in Saarbrücken. Weil aber meine Freundin den Martin nicht kannte und dem fremden Typen misstraute, bat sie mich hinzu. Wir zogen zu dritt durch die Kneipen der Altstadt. Ich begleitete die beiden bis klar war, ob sich der Mann als gefährlicher Spinner entpuppen würde oder nicht.
Doch als der Abend zu Ende ging, war nicht ich diejenige, die sich verabschiedete, um das Paar alleine zu lassen. Es war meine Freundin, die taktvoll nach Hause ging. Ein paar Rendezvous später waren Martin und ich ein Liebespaar. Bald feierten wir unsere Verlobung. Seither sind wir zusammen.
Bewerberin Monika Breitbarth über die Anfänge ihrer Ehe.
Was ich bis hierhin protokolliere, ist die Geschichte einer Frau, die es leicht hatte im Leben. Welchen Widerständen hatte sich die Frau mit den Schuppen bisher stellen müssen? Ein kaputtes Auto, die Mühen eines Staatsexamens und zwei Geburten? Angesichts dessen würden sicher die puren Lebensdaten dieses Frauenschicksal ausreichend beschreiben. Denn mehr als eine behütete Kindheit und ein bisschen Sex zum Kinder kriegen stehen schließlich nicht zu Papier. Natürlich, die Schuppen im Kaffee und auf dem blauen Jackett des Hosenanzugs sind noch zu verzeichnen. Womöglich ist das alles, was diese Frau je plagt. Wäre das Protokoll am Ende nicht verzichtbar?
Aber ich bleibe meiner Protokollantinnen-Rolle treu und überlasse weiterhin Svetlana die Regie. Obwohl etwas geschieht, dass nun doch meinen Widerspruch aufkeimen lässt, mindestens eine gewisse Verwunderung in mir hervorruft. Svetlana, die noch vor gut einem Jahr mit dem letzten Satz ihres Genossen Holger Meins brillierte: „Menschen, die sich weigern, den Kampf zu beenden – sie gewinnen entweder oder sie sterben, anstatt zu verlieren und zu sterben“, steht jetzt auf und brüht für die Schuppen-Frau eine frische Tasse Kaffee. Hat die kommunistische Klassenkämpferin etwa Kreide gefressen?
Martin ist einfach nur genial
Sobald der Kaffee fertig und in einer sauberen Tasse serviert vor der Schuppenfrau steht, nimmt Svetlana wieder ihren Platz ein. Noch während neue Schuppen über Monikas frisches Heißgetränk rieseln, fragt Svetlana durch den feinen Duft hinüber: „Was macht Martin heute beruflich?“
Martin ist leitender Ingenieur. Er konstruiert und baut Spezialkräne. Und zwar solche, die in der ganzen Welt berühmt sind. Mit Hilfe seiner Konstruktionen wurden der Shanghai Tower und das Ping An Finance Center in Shenzhen gebaut. Er ist einfach genial und einer der besten Ingenieure der Welt. Martin verdient damit mehr Geld als die Bundeskanzlerin.
Er hat uns schon öfter mitgenommen auf seine Reisen. Wir waren in China, in Arabien und in den USA. Selbstverständlich wohnten wir in den besten Hotels und waren immer von persönlichen Leibwächtern beschützt.
Bewerberin Monika Breitbarth über den Beruf ihres Ehemannes.
Dieser Martin muss wirklich ein toller Mann sein. So voller wunderbarer Ideen. Die hohen Häuser, die er mit seinen Kränen baut, bringen ihre Bewohnerinnen dem Himmel näher. Was für göttliches ein Gefühl es wohl sein muss, derart erhaben über den Wolken zu leben? Und nebenbei sorgt er für seine Familie, wie er es vorbildlicher nicht tun könnte.
Die Frau mit den Schuppen hat einen Bunker
Svetlana nickt der Frau mit den Schuppen anerkennend zu, fährt mit dem Interview fort: “ Wie verbringst du deine Tage, wenn Martin auf Dienstreise ist?“
An den Vormittagen arbeite ich bei einem Steuerbüro in Pirmasens. Als Juristin kümmere ich mich um die schwierigeren Fälle. Also wenn es Streit mit dem Finanzamt gibt, vertrete ich die Mandantschaft vor Gericht. Ansonsten führe ich den Haushalt. Wir haben zwar festes Personal für Haus, Garten und Kinder. Diese Leute erledigen natürlich auch die Einkäufe, putzen das Haus und übernehmen die Fahrten mit den Jungs.
Ich lenke und kontrolliere das alles. Damit da nichts schief läuft. Man glaubt gar nicht, wie viele Entscheidungen in so einem Haus jeden Tag gefällt werden müssen. Das fängt bei der Kleidung der Kinder an und hört bei der Kühlschrankware auf. Wir haben übrigens einen begehbaren Kühlschrank mit großer Gefrier-Abteilung. Im Keller befindet sich außerdem eine große Fluchtwohnung, wo ebenfalls Lebensmittel lagern. Die Vorräte müssen ständig erneuert werden, weil ja immer irgendein Haltbarkeitsdatum abläuft. Martin besteht darauf. Denn er will, dass wir mindestens vier Wochen dort unten leben können, ohne den Keller zu verlassen.
Monika Breitbarth über ihren anstrengenden Alltag mit Haus und Kindern.
Bei aller Abneigung erkenne ich die Leistung der Schuppenfrau durchaus an. Ein Haus mit zwei Kindern, einem schwer arbeitenden Ehemann und mehreren Bediensteten führt sich nicht von alleine. Ja, das stimmt schon. Diese Aufgabe ist ziemlich anstrengend, zumal sie ja auch noch einen verantwortungsvollen Beruf ausübt. Vorräte für vier Wochen erscheinen mir jedoch ein wenig zu knapp. Angesichts der unmittelbaren Bedrohungen sollte das Lager mindestens doppelt so lange halten.
Der Ingenieur stellt die Welt-Diagnose
Svetlana nimmt die Worte Monikas nachdenklich zur Kenntnis. Da sie seit 30 Jahren an der Seite ihrer Genossinnen im Untergrund lebt, wird sie eine Ahnung davon haben, wie es ist, wenn die notwendigsten Dinge des Lebens nicht einfach so zur Verfügung stehen. Gewisse Reserven können auch dabei durchaus hilfreich sein, die schlimmste Not abzuwenden. Dennoch fragt Svetlana nach, warum Martin Breitbarth die Vorräte anlegen lässt. „Welche Gefahren sieht Martin für seine Familie?“
Ich habe es ja schon gesagt. Martin kommt viel in der Welt herum und er ist ein großer Ingenieur, ein überragender Denker. Martin hat ein feines Gespür für Veränderungen. Er beobachtet genau. Daher weiß er, wie gefährlich die politische Lage für Europa geworden ist und welche Entwicklungen uns die Zeitungen und das Fernsehen verschweigen.
In Afrika zum Beispiel gibt es keine einzige stabile Regierung mehr. Auf dem ganzen Kontinent nicht, sagt Martin. Nirgendwo. Nach der Ausbeutung in der Kolonialzeit und der folgenden Fremdherrschaft von Konzernen und Militär sind es die Leute leid, sich selbst, ihre Kinder und ihr Land von den Europäern ausbeuten zu lassen.
Die Afrikaner schließen sich über alle Grenzen weg zusammen. Sie verbünden sich gegen uns und bilden Armeen, die momentan noch nicht sichtbar sind. In den afrikanischen Eliten erheben sich hinter vorgehaltener Hand Stimmen, die nach Wiedergutmachung und Vergeltung rufen.
Während China in Asien die Vormacht erringt. Dort gab es keine Zeit der Aufklärung wie bei uns. Die Menschen dieses Erdteils kennen keine Menschenrechte für Einzelne wie sie wenigstens der Form nach im Westen gelten. Asiaten ordnen sich der Gemeinschaft unter. Ihre Führer bestimmen wo es lang geht. Unter denen macht sich die Erkenntnis breit, dass sie die westliche Welt unterwerfen müssen. Nur dadurch können sie den Völkern Asiens ihren Wohlstand und Sicherheit erhalten.
Das weiß Martin, weil er mit diesen Leuten beim Bau der Wolkenkratzer zu tun hat. Daraus zieht er seine Konsequenzen. Die Erste ist natürlich die, das Überleben seiner Familie zu sichern.
Monika Breitbarth über die Welt-Diagnose ihres Mannes Martin.
Die Angst der deutschen Elite
Obwohl sich das Gehörte mit den Berichten unserer Afrikaner in der Pirmasenser Kolonie deckt, erstaunt es mich doch ein wenig. Schließlich spricht die Frau mit den Schuppen für eine der begüterten Familien. Die gelten bekanntlich für die Gesellschaft außerhalb der Pirmasenser Kolonie als so wertvoll, dass deren Überleben im Falle einer Bedrohung von den staatlichen Behörden unbedingt geschützt werden soll.
Denn die Breitbarts besitzen nicht nur ein selbst erwirtschaftetes Vermögen. Die Leute haben obendrein ein machtvolles Erbe zu erwarten. Üblicherweise spielt die gesellschaftliche Elite die Bedrohungen herunter und leugnet sie. Schließlich soll die ärmere und arbeitende Masse weiterhin am Arbeitsplatz erscheinen und ihre Dienste verrichten.
Aber diese Haltung scheint sich nun zu ändern. Womöglich wächst sogar im inneren Zirkel der Besitzenden die Angst. Wenigstens bei Familie Breitbarth ist das offensichtlich so. Denn Monika mit den Schuppen sitzt schließlich hier an unserem Tisch in der Geistlichen Hütte.
Gibt es das Paradies umsonst?
Sie kommt als Bewerberin. Das bedeutet, selbst die Stärksten der Gesellschaft draußen sind derart verunsichert, dass sie jetzt in die schützende Gemeinschaft der Auserwählten Gottes drängen. Ob sie ins Reich Gottes aufgenommen werden? Lassen wir Monika Breitbarth und ihre Familie gratis ins Paradies? Das klären wir beim nächsten Gespräch.