Missgunst: Das Seufzen des Scharniers
Es muss Missgunst sein. Sie lassen mich einfach nicht in Ruhe. Immer wieder und ohne Pause kommen sie zu mir und wollen, dass sich irgendetwas sage, schreibe und für sie tue. Dabei sehne ich mich nach Ruhe. Nach dieser Ruhe von lebendiger Unberührtheit in Freiheit und Wärme.
Springe zu einem Abschnitt:
Der Luxus: In die Ferne schauen
Aber nein. Gerade so, als wäre es die schlimmste und abscheulichste Sünde, einfach nur dazusitzen und in den Himmel zu schauen, kommen sie heran, um mich aus meinen Gedanken zu vertreiben. Missgunst? Mein einfacher Holzstuhl mit der Leiterlehne, dem durchgesessenen Sitz aus brüchigem Bast, der schmale Tisch aus imitierter Eiche mit den abgestoßenen, faserigen Ecken ist für sie zu luxuriös, als dass sie mir gönnten, länger als ein paar Stunden dort zu sitzen.
Also kommen sie heran. Manche von ihnen kommen schnell und entschlossen, andere langsam und zögerlich. Ester Berlin, die ewig streitende Geliebte von Claude Otisse, ist eine der zögerlichen Missgünstigen. Die Tür ihrer Hütte entlässt ein unüberhörbares, schweres Seufzen aus den Scharnieren.
Obwohl in meinem Rücken hinter mir gelegen, sehe ich sie, ohne die Augen auch nur ein Grad auf der Kreisbahn zu wenden klar und deutlich vor mir. Ja, ich kann Ester Berlin mit den Ohren die Hüttentür öffnen sehen. Wie sie vorsichtig den Kopf heraus streckt, das lange Haar aus dem Gesicht schwingt und ihren Blick ängstlich zum Himmel schwingt. „Regnet es?“, fragt sie sich wohl. Aber es regnet nicht. Statt der tropfenden kühlen Nässe wärmt die bereits zum Mittag strebende Frühlingssonne die Wiesen zwischen den Hütten auf.
Die schöne Tracht der Missgunst
Der Hauch des neuen Lebens streichelt meine Seele. Aber Ester blinzelt nur mit den Lidern, meine Ohren sehen den harten Schlag. Missgunst. Dann ertönt wieder dieses Seufzen. Das genau in dieser Tonhöhe und in diesem Takt. Sowie es niemand anderes als Ester Berlin dem reibenden Metall der Scharniere zu entlocken vermag. Somit schließt sie die Tür. Im Folgenden, sich stets in gleicher Weise wiederholenden Ablauf sucht sie aus einem ihrer Schränke und den bunten Schuhkommoden ihre Tagestracht, ihre Kleidung aus.
Die rituelle Reinigung
Danach begibt sie sich unter die heiße Dusche. Ich höre wie sie das Fenster kippt und der Wasserdampf aufsteigt. Sobald Ester Berlin ihr Reinigungsritual beendet hat, kleidet sie sich an. Dabei raschelt und poltert sie so laut, dass Claude Otisse auf seiner Liege aus den Träumen erwacht. Dafür ist sie nun fertig für den Tag und tritt in Begleitung eines neuerlichen Aufseufzens der Hüttentür hinaus.
Jetzt ist es soweit. Ihre Blicke bohren sich in meinen Rücken. Ester Berlin weiß nun, dass ich bereits seit Stunden auf meinem alten Stuhl vor dem kleinen Tisch sitze. Zudem weiß sie, dass ich mich dabei kaum bewege und in die Ferne schaue. Ja. Ich sehe nicht fern. Ich sehe in die Ferne. Für sie ist das Fernsehen eine unerträgliche Untätigkeit.
Somit beginnt Ester Berlin damit, ihre Schritte um mich herum zu lenken. In konzentrischen Kreisen und Ellipsen schlendert sie um mich herum. Obwohl ihre am Abend zuvor blank geputzten Stiefel den ersten Schmutzrand über dem feinen Leder sammeln, kommt die Missgunst langsam näher. Nachdem die Missgunst diesem und jenem einen Mittagsgruß entboten hat, baut sie sich schließlich vor meinem Tisch auf. Die Missgunst verstellt mir breit den Blick in die Ferne. Somit nimmt sie mir die Ruhe, die Wärme, die lebendige Unberührtheit des Daseins.
Die Flucht vor der Missgunst nach Innen
„Komm, Hunde-Tommy“, spricht Ester Berlin, „der Tag beginnt und wir wollen unsere Arbeit erledigen!“ Dann folgt der Augenblick, in dem mir die Flucht nach Innen als einzig möglicher Ausweg bleibt. Sie redet weiter ohne Unterlass, ohne Unterbrechung. Sooft Ester Berlin den Mund aufmacht, prügelt, schlägt und sticht sie auf meine Ruhe ein. Infolgedessen stirbt meine lebendige Unberührtheit an diesem Tag einen weiteren Tod. Die Missgunst siegt. Aber nur bis zum neuen Morgen. Ich verlasse widerstrebend und gezwungen meinen alten Stuhl und den kleinen Tisch. Dann folge ich – mit Unruhe und Angst innerlich gleichsam überschüttet – ihrer Missgunst zu dem, was sie Arbeit nennt.