Auf einen Sprung unter die Streckbrücke
Er ist ständig betrunken. So sehr besoffen sogar, dass er bisweilen den geistigen Kontakt zur Außenwelt verliert. Heute Mittag ist Theophil Meisterberg mit dem Auto über die Streckbrücke gefahren. Aber davon hat er gar nichts gemerkt. Die Brücke lag schon mehrere hundert Meter und drei Ampel hinter uns. Wir waren schon am Bahnhof. Dort zweifelte er an sich: „Wann kommt denn endlich die Streckbrücke? Hab‘ ich mich verfahren?“
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Trotz Trunkenheit auf der richtigen Straße
Nein. Falsch abgebogen war Theophil nicht. Der Weg stimmte. Wir waren mit dem kleinen Lieferwagen der Pirmasenser Kolonie unterwegs nach Fehrbach. Wo wir die restlichen Umzugskisten einer Frau abholen wollten. Sie war mit ihrem Sohn vergangene Woche in die Kolonie gezogen. Dafür hatte sie die Geschäftsreise ihres Ehemannes abgewartet. Der Software-Unternehmer weilte also fern in den USA. Somit konnten wir ungestört die brauchbaren Möbel und die Wertgegenstände ausräumen.
Gestern streifte die Unternehmergattin ein letztes Mal durch die Räume ihres ehemaligen Hauses. Sie verabschiedete sich auf diese Weise vom alten Leben. Außerdem holte sie noch einige wenige Souvenirs von Urlaubsreisen, Fotos und Alltagsutensilien aus den noch verbliebenen Schränken und Kommoden. Diese Sachen packte die Frau in eben jene Pappkartons, die Theophil und ich nun abholen wollten. Mittlerweile gehören solche Umzüge zum Alltag der Pirmasenser Kolonie.
Jedes Fest muss ein Ende haben
Natürlich verdient jeder Einzug in die Pirmasenser Kolonie gefeiert zu werden. Weil die Kolonie wächst und an Macht gewinnt. Weil die auserwählten Kolonistinnen beginnen ein besseres Leben beginnen dürfen. Trotzdem sind die Umzüge weder Grund noch Anlass, den ganzen Tag zu saufen.
Schweigsam, aber dafür umso als wenn wir geredet hätten, verluden wir die fünf Kisten auf die Ladefläche unseres Vans. Nachdem wir unsere Arbeit erledigt hatten, verschloss ich die Haustür und warf die Schlüssel durch den Briefkastenschlitz. Rasselnd und klirrend fiel der Bund auf die tönernen Fliesen. Während dessen eilte Theophil zum Auto. Schon wieder saß er auf dem Fahrersitz. Sogleich öffnete er eine Flasche Gottbier.
Betrunkener Fahrer, schrottreifes Auto
Der Motor sprang wiedermal nicht sofort an. Erst nach vier Versuchen nahm das verschlissene Aggregat seine Arbeit auf und entließ eine stinkende, schwarze Rußwolke durch den Auspuff. Die Karosse sieht nicht besser aus. Der Rost quillt aus allen Ecken. Während der Fahrt quetscht und scheppert es aus allen Richtungen. Aber das Schlimmste ist die Bremse. Die versieht erst nach mindestens vier herzhaften Tritten aufs Pedal ihren Dienst. Dann verliert der Wagen unter metallisch-schabendem Geräusch nur sehr zögerlich an Geschwindigkeit.
Vielleicht einen Kilometer bevor wir die Kolonie erreichten, fragte ich Theophil: „ „Hast du Lust? Wir könnten nachher noch auf einen Sprung unter die Streckbrücke gehen und den Mops mitnehmen?“ Die Antwort ließ allerdings auf sich warten. Die kam erst, als wir die Kisten abgeladen und in die kleine Lagerhütte hinter der Streuobstwiese verstaut hatten. „Ja gut. Lass‘ uns ein paar Schritte mit dem Mops durch den Park gehen. Aber nicht zu weit. Denn ich bin müde.“
Der schwere Atem des Mops‘ Julian
Theophil trägt unseren Mops namens Julian auf den Armen vor sich her. Wir gehen auf dem mittleren Weg unter der Brücke bis an neben den abgelassenen Zierteich. Dort findet sich eine flache, wintergrüne Wiese. Ein guter Ort für den Mops. Damit sich das schon nach wenigen Metern schwer schnaufende Tierchen bequem erleichtern kann. „Das hast du gut gemacht“, lobt Theophil den Mops für sein Häufchen. Mops Julian sieht Theophil dankbar an. Dann tappst Julian ein paar unbeholfene Schritte neben uns her. Bevor der Hund wie abrupt stehen bleibt. Theophil nimmt ihn wieder auf den Arm.
„Was für eine Brücke!“ Theophil wohnt nun fast ein Dreiviertel Jahr in der Pirmasenser Kolonie. Seither kommt er fast täglich an der Streckbrücke vorbei, geht unter ihr durch oder er fährt darüber. Dennoch empfindet er noch immer eine große Ehrfurcht vor diesem Bauwerk. Dieses Gefühl steht in seinem Gesicht geschrieben. Jetzt wäre der richtige Moment gekommen, um ihn zu fragen, warum er so viel Bier trinkt. Doch just als ich den Mund aufmachen will, kommt er mir zuvor.
Die Antwort auf eine nicht gestellte Frage
Theophil: „Wo ist denn deine Frau gesprungen?“
„Meine Frau ist am Morgen ihres 60. Geburtstages von der Schwarzbachtalbrücke an der Autobahn 62 bei Thaleischweiler-Fröschen gesprungen. Seit es diese neue Brücke gibt, sind die Sprünge von der Streckbrücke weniger geworden.“
Fetthans Pirmasens über den Suizid seiner Ehefrau
Theophil will wissen: „Gibt es eine genaue Statistik über die Sprünge?“ Ich vermute: „Die gibt es sicherlich. Aber ich kenne sie nicht.“
Noch immer stehen wir da und sehen zur Brücke. Autos und Lastwagen fahren darüber. Hin und wieder geht geht jemand zu Fuß. Unser Reden pausiert für eine Weile. Doch dann beantwortet Theophil jene Frage, die mir wenige Minuten zuvor seine Worte zu stellen verwehrten.
„Meine Mutter ist auch gesprungen. Es war im Sommer, als sie mit der Bahn nach Pirmasens zur Streckbrücke reiste. Sie stieg aus dem Zug, ging die kurze Strecke zur Brücke und sprang. Fünf Jahre nach dem ich die Pfarrei aufgab und in die Wälder zog, fasste sie den Entschluss. Ich erfuhr erst kurz vor Weihnachten von Mutters Freitod.
Ein alter Bekannter aus Bad Liebenzell hatte einen Brief an mich geschrieben. Jedoch schickte er die Nachricht an die Obdachlosenhilfe. Weil ich keine Adresse hatte. Die Helfer fanden irgendwie meinen letzten Aufenthalt heraus. Es wurde früh Winter in jenem Jahr und in den Höhlen wurde es zu kalt. Weshalb ich zum Asyl nach Pirmasens wanderte. Dort überreichte man mir den Brief. Seither ist der Advent eine schwere Zeit. Nur der Alkohol hält mich davon, meiner Mutter in den Tod zu folgen.“
Pfarrer Theophil Meisterberg über das Schicksal seiner Mutter
Unter der Streckbrücke: Ein ganz besonderer Ort
Wir schlendern weiter bis wir direkt unter der Streckbrücke ankommen. Dort halten wir schweigend an und schauen nach oben. Theophil nimmt Mops Julian wieder auf den Arm und sagt: „Dieser Park ist ein ganz besonderer Ort.“ In der Kolonie spielen die Kinder lärmend und lachend Fußball. Wir trinken Gottbier und schauen ihnen zu.
Bericht: Fetthans
Fotos: Theophil Meisterberg