Lars-Leon trägt jetzt eine tolle Waffe

Extremist Lars-Leon feuert auf Uniformierte. Eine nach seiner Fantasie gestellte Szene.
Diese Szene wurde nach der Fantasie des Lars-Leon entworfen. Der Extremist liebt Waffen und hasst seine selbst erklärten Feinde: Uniformierte.

Lars-Leon will nie mehr widerstandslos eine Kontrolle über sich ergehen lassen. Deswegen er trägt jetzt eine Waffe. Wenn Uniformierte auf ihn zu kommen, wird er abdrücken. Tausendfach hat Lars-Leon die Szene in seiner Fantasie und bei Übungen mit seinen Kameraden durchgespielt. „Jeder Handgriff sitzt. Der Feind kann kommen. Ich bin bereit“, schwor der Extremist. Während des Schwurs stemmte er mit beiden Armen ein amerikanisches Sturmgewehr über seinen Kopf und lächelte vor Überlegenheit.

Als ich dieser Tage seiner Einladung in die Zwei-Zimmer-Erdgeschoss-Wohnung folgte, dachte ich mir: „Heute werde ich endlich einmal erfahren, wie so ein Extremist wirklich aussieht.“ Denn bisher ist mir noch nie ein leibhaftiger Extremist über den Weg gelaufen. Vor Augen hatte ich nur die Bilder aus dem Fernsehen. Also glaubte ich, auf einen durchgeknallten Vermummten zu treffen, der in einer völlig versifften Wohnung haust und irgendwelche Parolen brüllt.

Den Extremisten sieht man Lars-Leon nicht an

Besoffen vom Fanatismus, dem Alkohol oder womöglich beidem wähnte ich den Extremist Lars-Leon. Sogar ein wenig Angst stieg in mir auf, als ich mich seiner Adresse näherte. Aber es erwartete mich ein gänzlich anderes Bild als das in meinem Kopf. Jedenfalls sah dieser Kerl überhaupt nicht so erschreckend aus wie ich mir ihn vorgestellt hatte. Im Gegenteil. Es öffnete mir ein korrekter und freundlicher Mann am Ende seiner 30er Jahre die Tür. Lars-Leons Erscheinung war weder unordentlich, noch war er berauscht oder gar äußerlich abstoßend.

Lars-Leon hatte mich bereits erwartet. Auf die Sekunde genau wusste er, wann ich seinen namenlosen Klingelknopf drücken würde. Schließlich ertönte der Summer. Die Wohnungstür sprang einen Spalt breit auf. Auf seine Bitte trat ich ein. Mit einer Handbewegung bedeutete mir Lars-Leon, ich sollte die Tür hinter mir schließen. Ich tat es leise.

Somit befand ich mich in dem kleinen, vielleicht vier Quadratmeter großen Flur, welcher den Eingangsbereich der kleinen Mitwohnung bildete. Ein Geruch von billigem Weichspüler und Fußschweiß lag über diesem Raum. An dessen Seiten waren auf dem Boden eine größere Zahl Schuhe und Stiefel aufgereiht. Außer drei an der Wand befestigten Kleiderhaken sah ich im Flur keine weiteren Möbel. Zwei offene Zimmertüren erlaubten mir den kurzen Blick in die Küche und das Schlafzimmer. Auch diese Räume waren äußerst karg ausgestattet.

„Kommen sie ins Wohnzimmer, Herr Otisse. Oder wollen wir lieber gleich ‚du‘ sagen?“ Die Frage nach dem Du überraschte mich nicht. Denn als Gast in einer kleinen Wohnung anzukommen, bedeutet immer einen Schritt ins Intimste ihrer Bewohner. Schließlich vermag ein halbwegs erfahrener Blick aus der Einrichtung und den Lebensspuren vieles über den Charakter des Bewohners zu lesen. Eine kleine Wohnung ist wie ein offenes Buch, während der Gästebereich eines großen Hauses das Private verbirgt.

Sauber, hell und aufgeräumt

„Ja, von mir aus können wir ‚du‘ sagen. Ist in Ordnung, Lars-Leon“, gab ich zurück. Dann folgte ich dem mit Camouflage-Hose und grauem Strickpullover bekleideten Mann durch die spärlich ausgestattete Küche. Der zweiflammige Herd auf einem Unterstellschränkchen, der Resopaltisch mit Metallfüßen und zwei graue, mit Kunststoff bezogene Stühle daran, ein paar Töpfe, Tassen und Besteck. Kühlschrank, Waschmaschine, Spüle und eine Kiste Bier. Mehr sah ich in der Küche nicht. Außer der peinlich genauen Sauberkeit. Kein dreckiges Geschirr, kein Staub, keine überquellenden Mülleimer.

Danach betrat ich das Wohnzimmer des Lars-Leon. Ein gefangener Raum, der nur durch die Küche zu erreichen war. Dort erwartete mich eine Wohnlandschaft wie ich sie aus den Prospekten der Billig-Discounter kannte. Pressspan mit Folie beschichtet. Couch und Sessel über Eck gebaut. Mit rotem, aber falschem Plüsch gepolstert, beherrschte die Garnitur den Raum. Davor ein niedriger Tisch aus weißem Kunststoff. Dahinter eine Media-Regalwand mit großem Flachbild-Fernseher, einer Lautsprecher-Leiste und einem Digital-Receiver. Die Wände hatte er mit Raufasertapete überzogen und mit weißer Farbe ohne Tönung dick eingestrichen. Helle Räume ohne Flecken, alles sauber und rein.

Er überwacht die Straße mit Kameras

Unters Fenster zum Hof hatte Lars-Leon einen schmalen Schreibtisch gestellt. Darauf befanden sich zwei Computermonitore. Jedes Gerät zeigte sechs quadratische Bilder, die offensichtlich vom Straßenzug vor dem Mietshaus stammten. Daher also wusste Lars-Leon, wann genau ich den Klingelknopf drücken würde. Er überwachte seine Umgebung mit versteckten Videokameras an Laternenmasten und Verkehrszeichen.

Lars-Leon bat mich höflich: „Nimm‘ Platz, Otisse. Ich muss dir etwas zeigen!“ Sogleich versank ich im Schaumstoffplüsch. So tief, dass eine Holzkante in meine Oberschenkel drückte. Auch Lars-Leon setzte sich mir gegenüber auf die Wohnlandschaft. Ich beobachtete ihn. Neugierig war ich, was dieses Wichtige wohl sein mochte. Nun verhärteten sich die Gesichtszüge des bislang einigermaßen freundlich wirkenden Mannes. Er sah mich mit einem kurzen, starrem Blick an, bevor er mit beiden Armen nach vorne zwischen den Beinen hindurch unter sich griff.

Das Sturmgewehr liegt unter der Wohnlandschaft

Ich erschrak. Denn das hier hatte ich nicht erwartet. Plötzlich hielt Lars-Leon ein Sturmgewehr in den Händen. Er legte es auf dem Kunststofftisch zwischen ihm und mir. Dann griff er ein weiteres Mal unter die Couch. Diesmal zog er einen flachen Kasten hervor. Daraus entnahm er eine Pappschachtel mit Munition und stellte sie neben die Waffe auf den Tisch. Nach dem er damit fertig war, sah er mich fordernd an.

„Was meinst du dazu, Otisse?“ Er erklärte mir, dies sei ein amerikanisches Sturmgewehr Colt M4 Carabine. Die Waffe wäre leicht, schnell und treffsicher. Seine Augen strahlten während er von seiner Waffe schwärmte wie ein Kind an Weihnachten von seiner neuen Spielkonsole. Zunehmend entspannten sich dabei seine Gesichtszüge. Sein Antlitz erreichte fast jene verklärte Heiterkeit, die ich bisher nur bei tief Gläubigen beobachtet hatte. Beim Anblick dieser Waffe schien auch er sich der Erlösung nahe zu fühlen.

„Das ist ein tolles Gewehr“, sagte Lars-Leon stolz. Jetzt, da er es endlich besitzt, werde er sich von den Uniformierten nichts mehr gefallen lassen. Er versprach: „Die Uniformierten haben jetzt nichts mehr zu sagen, sonst knall‘ ich die einfach ab!“ Unterdessen streichelte er den Lauf und liebkoste mit den Fingerspitzen den Abzug. Wortlos nahm er das Magazin mit den Patronen heraus zu zeigte mir die spitzen Geschosse.

Wahnvorstellung und Rache an Uniformierten

Natürlich hätte ich diesen Extremisten gerne danach gefragt, warum er aus dem Hinterhalt heraus Uniformierte erschießen will. Gerne hätte ich gewusst, aus welchem Grund er so fest davon überzeugt war, die Ordnungshüter wollten ihm etwas antun. Aber ich zog es vor, nicht danach zu fragen. Denn diese Frage schien mir durchaus geeignet, seine blinde Wut erneut zu wecken. Irgendetwas muss aber vorgefallen sein.

Vielleicht haben sie ihm den Führerschein abgenommen oder möglicherweise darf er nach der Scheidung seine Kinder nicht mehr sehen. Derartiges wäre denkbar. Aber auch anderes. Ein in früher Kindheit erlittenes Trauma, überlieferte Kriegserlebnisse in Lars-Leons Familiengeschichte oder Wahnvorstellungen in Folge einer Krankheit.

Jedenfalls konnte ich diese Dinge trotz größter Neugier nicht erforschen, während ich in der Wohnlandschaft des Extremisten saß. Also verabschiedete ich mich von Lars-Leon. Nur eines teilte ich noch mit: „Es ist eine tolle Waffe. Aber zur Aufnahme in die Pirmasenser Kolonie wird sie nicht reichen!“ Mit dieser Absage ließ ich den Extremisten in seiner Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Behausung zurück. Seit Dezember hatte er mich mit Anrufen und Emails genervt und um einen Besuch zwecks Aufnahme in die Kolonie gebeten.

Aber darum ging es ihm bestimmt nicht wirklich. Ich vermute, der Lars-Leon wollte einfach nur gesehen und von mir ernst genommen werden. Um zu erfahren, ob die gezeigte Kriegswaffe tatsächlich echt sein konnte, suchte ich nach dem Besuch bei dem Extremisten den Scharfschützen auf. Der ehemalige Fremdenlegionär und Söldner gilt als ausgewiesener Experte für Kriegswaffen und den Schwarzmarkt. Er bestätigte, dass derzeit eine größere Menge an amerikanischen Sturmgewehren kursieren. Allerdings riet mir der Scharfschütze dringend, meine Recherchen in der Szene einzustellen. Denn Leute wie Lars-Leon seien besonders in Krisenzeiten unberechenbar.

Claude Otisse

Claude Otisse

Der Journalist und Fotograf Claude Otisse nennt sich Superior und ist Mitglied der Geistlichen Hütte der Kolonie der Auserwählten in Pirmasens.

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