Gefängnis: Wo Menschen Müll heißen
Andreas verbrachte drei Jahre und sechs Monate im Gefängnis. Diese Lebenszeit verrann unnütz zwischen ungewaschenem Männerschweiß, stupiden Hofgängen und monotoner Zwangsarbeit. Weil er eine dunkle Hautfarbe trägt, musste er im Gefängnis körperliche und seelische Misshandlungen über sich ergehen lassen. Erst waren es die Aufseher. Dann erklärten ihn die Mitgefangenen zum Afrikaner. Deswegen nannten sie ihn Menschenmüll. Nunmehr haben sie ihn als Überlebenden aus der Haft entlassen. Daraufhin bewarb sich Andreas in der Pirmasenser Kolonie um die Aufnahme.
Springe zu einem Abschnitt:
Aus dem Gefängnis zum Bewerbergespräch
„Wie konnten sie dich überhaupt erwischen?“ Das wollte Theophil Meisterberg zuallererst vom Ex-Gefangenen wissen. Während Ester vorsichtig an einer Tasse heißen Kaffees nippte, starrte sie fortwährend in Andreas‘ ausgemergeltes, aschfahles Schattengesicht. Sie bewegte kaum die Augäpfel. Sowie die schwarzweiße Kolonie-Katze vor dem Mauseloch jedes Zucken ihres Opfers erfasst. Bis in die letzte Faser ihres Körpers konzentrierte sich Ester auf ein einziges Objekt: Andreas.
Weil unsere schwarzweiße Katze unter Rheuma leidet, rühren wir ein Schmerzmittel unters Futter. Dennoch schlägt diese Katze unbeirrt ihre Beute. Sogar einen prächtigen Siebenschläfer und eine schwere Biberratte brachte die Sadistin unlängst zur Strecke. Die Freude an der Jagd, die jeder Jägerin eigene Euphorie des lüsternen Tötens, ist trotz der Schmerzen der Zweck und Sinn ihres Lebens.
Aber auch der bürgerliche dekadente Journalist war dabei. Zum ersten Mal saß Claude Otisse mit uns an diesem Eichentisch in der Geistlichen Hütte. Trotzdem er sich noch immer nicht klar und eindeutig für die Kolonie entschieden hatte, nahm er an diesem Bewerbergespräch teil. Ester hatte ihn eingeladen. Wahrscheinlich hoffte sie, Otisse ins Geschehen einzubinden und ihn so die Entscheidung für die Kolonie zu erleichtern. Jedoch hegte ich die größten Zweifel, ob dieses Unternehmen bei einem Menschen von der Sensibilität einer Bullenpeitsche jemals erfolgreich sein kann.
Der Ehrgeizling und die schwarzweiße Katze
Also entflocht der wie immer fahrige Otisse seine Blicke rasch aus dem Geschehen um den Eichentisch. Im Geiste begab er sich hinaus zu besagter Kolonie-Katze. So schien es für diesen Mann in diesem Augenblick nichts Wichtigeres, Größeres und Bedeutenderes zu geben als dieses. Durchs große Fenster beobachtete er die Jagd der alten Katze. Ein schneller Blitz kam in meinem Kopf. Der fragte mich: Zu wem mag Otisse wohl halten? Bevorzugt er die Maus im Gefängnis der Krallen? Oder gilt seine Sympathie der Jägerin? Ich glaube sicher, Otisse hält stets zu jenem Tier, das gerade im Vorteil zu sein scheint.
Umso mehr sich Otisses Neigungen offenbarten, desto weniger Menschlichkeit traute ich ihm zu. Einer seines Charakters sollte niemals verantwortlich ein Amt in der Kolonie bekleiden. Dennoch könnte er mir nach Theophil Meisterbergs Tod meinen Titel des kolonialen Pressesprechers streitig machen wollen. Weil er ein perverser Ehrgeizling ist. Obwohl ich diese Gedanken nur leise denke, steigt die bloße Wut hinter meine Augäpfel. Und noch mehr, wenn ich mir vorstelle, wie er mit seinen Schreiberling-Fingern die schöne Ester angrabscht.
Was geschieht in so einem Fall mit mir? Wegen des Drucks verschwimmt die Welt um mich in einem Vorhang aus milchigem, von halbdunklen Schatten und schwebenden geometrischen Figuren durchzogenem Nebel. Wie schon so oft, zog dieser Nebel auch während dieses Bewerbergesprächs herauf.
Verräter sind selten Helden
Andreas antwortete auf Theophils Frage: „Es gab Zeugen. Die erkannten mich und haben mich an die Greifer verraten.“ Theophil wog abschätzend den Kopf hin und her und zog die Stirn in Falten. Zwar zeigte der Leiter der Geistlichen Hütte kein eindeutiges Kopfschütteln. Demnach durfte Andreas noch hoffen. Denn das Kopfschütteln hätte ein kategorisches Nein und damit die Ablehnung des Kandidaten Andreas bedeutet. Aber soweit ich das durch meinen Wutnebel erkannte, war der Pfarrer recht weit davon entfernt.
Auch wenn der sichtlich geschwächte Andreas angestrengt all seine Kraft zur Selbstbeherrschung zusammennahm, rutschte er dennoch angesichts der auf ihn gerichteten Augen und Theophils Reaktion nervös auf dem Stuhl herum. Dabei verschüttete er den Kaffee. Aber es entstand kein großer Waschaufwand. Lediglich ein paar kleine Flecken waren auf dem Eichentisch zu sehen. Entsprechend wenig hatte der von Theophil herbei gerufene Sechszylinder zu tun. Der nunmehr vollends zum Eunuchen beschnittene, frühere Fußballfan und Audi-Fahrer war mit seinem Dienst schnell fertig.
Das Verhängnis der zu kleinen Stofftasche
„Ich habe eine Bierflasche weggeworfen. Weil sie nicht mehr in meine Stofftasche passte. Diese eine Flasche war einfach nur überzählig. Ich hatte eine zu viel gekauft. Obwohl die Tasche schon etwas älter war und mir genügend gedehnt schien. Trotzdem erwies sie sich als zu klein für elf Flaschen. Also musste eine weg. Weil ich zum Tragen des Gewichts von zehn Flaschen Bier beide Hände brauchte. Mit der zusätzlichen Flasche hätte ich den Beutel mit den zehn Flaschen in der einen und die elfte Flasche in der anderen Hand tragen müssen. Das wäre mir zu anstrengend und unbequem gewesen.“ So erklärte Andreas seine Tat, die ihn ins Gefängnis brachte.
Allerdings reichte uns das von Andreas genannte Motiv nicht aus. Zwar wissen wir, dass die Gerichte der Republik arme Leute ungleich strenger bestrafen als die Reichen. Wer nichts hat, um seine Geldstrafen oder die Bußgelder zu begleichen, den bringen die Greifer ins Gefängnis. Deswegen gilt für das Gelände der Pirmasenser Kolonie ein Betretungsverbot für alle Beamte und Agenten der Behörden. Somit haben wir eine gottgewollte Schutzzone gegen Unrecht, Übergriffe und Gewalt erschaffen.
Doch Andreas, unser Bewerber? Die weggeworfene Bierflasche beantwortete keineswegs Theophils Frage. Schließlich wollte der Pfarrer von Andreas wissen, wie und warum sie ihn so leicht erwischen konnten.
Eine Mutter stirbt an einer Bierflasche
„Ein Kollege hat mich erkannt und an die Greifer verraten. Dann kamen sie am Nachmittag in die Bank und nahmen mich mit. Zuerst sperrten sie mich in einen engen Raum ohne Fenster. Dessen gekachelte Wände waren mit Scheiße verschmiert. Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden ich in der stinkenden Zelle zubrachte. Später, es war schon weit nach Mitternacht, holten mich zwei Uniformierte unter Schlägen und Tritten ins Verhörzimmer. Dort erzählten mir zwei schmierige Greifer in Zivil, die Bierflasche hätte unter der Brücke die Windschutzscheibe eines fahrenden Autos getroffen. Der Aufprall habe einen Unfall verursacht. Dabei sei die Mutter ums Leben gekommen. Eines der beiden Kinder auf Rücksitz sei schwer verletzt worden, das andere leicht.“
Theophil Meisterberg nickte verständnisvoll. Während Ester Berlin verwundert die Augen verdrehte. Danach fragte sie den offensichtlich erleichterten Andreas: „Heißt das, du hast aus purer Gedankenlosigkeit die Bierflasche über die Brüstung der Brücke geworfen?“ Andreas antwortete schnell: „ Klar. Ich wollte niemand töten. Bloß die überzählige Bierflasche sollte weg. Sonst nichts.“
Zum Afrikaner erklärt und misshandelt
Ester fragte weiter: „Glaubst Du, sie haben dich wegen deiner Hautfarbe misshandelt?“ Jetzt begann Andreas schwer zu schnaufen. Esters Worte rührten an den tiefen seelischen Verletzungen, welche Verhaftung, Verhöre und Haftbedingungen hinterlassen haben. „Ja, so war das. Die Greifer sagten, ich werde zu spüren bekommen, was es bedeutet, wenn sich ein Neger an einer deutschen Frau und ihren Kindern vergeht. Dabei bin ich kein Afrikaner. Ich bin in Deutschland als Besatzungskind eines Afroamerikaners und einer Pirmasenserin zur Welt gekommen. Trotzdem haben sie mich im Gefängnis wie einen echten Afrikaner behandelt. So wie jene, die sie als Menschenmüll beschimpften.“
Nachdem Andreas mit seiner Rede zum Ende gekommen war, rief Theophil erneut den Sechszylinder herein. Jetzt schickte er den Diener um eine Kiste Gottbier. Sogar der unaufmerksame Otisse hatte mittlerweile wieder zugehört. Dabei wirkte er äußerst nachdenklich. Das möchte ich nicht leugnen. Obwohl die Nachdenklichkeit für Otisse spricht.
Vermutlich wird Theophil den Bewerber Andreas den Vorstandsfrauen der Pirmasenser Kolonie zur Aufnahme vorschlagen. Was Theophil Meisterberg umstimmte, dürfte die Tatsache gewesen sein, dass Andreas‘ abgeurteilte Tat keine geplante war sondern ein Versehen.