Die Liebe schafft Ordnung. Der Verstand bringt Kaffee.

Was ist zu tun, wenn das Leben im Chaos versinkt? Wenn die Kraft nicht mehr ausreicht? Wenn sich jede Entscheidung als falsch erweist? Wenn die Welt zu wanken beginnt? Eine neue, eine gute Ordnung schaffen? Das wäre eine Möglichkeit? Ja, vielleicht. Aber wie kann das gelingen?

So saß ich niedergeschlagen am großen Eichentisch und tippte in den Laptop, was mir gerade zu diesen Fragen einfiel. Erst die Ordnung ermöglicht das menschliche Leben wie wir es kennen. In der Ordnung überwindet der Verstand das Chaos. Der verstehende Geist erkennt Licht und Dunkelheit, Ich und Du, Frau und Mann, Gutes und Böses, Freund und Feind, Mensch und Tier, Verworfene und Auserwählte.

Am Anfang, gerade erst geboren, lernen wir Ich und Du zu trennen. Dann geben wir den Dingen ihren Namen. Wir unterscheiden Formen und Farben, Lebendes und Totes. Ist das ein Baum oder ein Blume? Ein Stein oder ein Hund, Mensch oder Puppe? Aber die Unterscheidung der Gegenstände Menschen reicht nicht aus. Von einer halben Scheibe Brot ohne Butter und Käse wird schließlich auch niemand satt. Was fehlt dem Verstand?

Ordnung und Vernunft herrschen im Reich Gottes. Kugeln in einem dreickigen Netzaus goldenem Draht
Das Leben braucht Verstand, Vernunft und Ordnung.
Grafik: Fetthans Pirmasens, 2021

Verstand ohne Vernunft ist nichts

Die Vernunft ist es. Die Vernunft fehlt noch. Sie muss hinzukommen, damit der Verstand eine gute Ordnung hervorbringt. So wie wir unsere Texte ordnen, damit sie leicht lesbar und zu verstehen sind. Das also ist Vernunft, wenn wir eine Geschichte gliedern, die Handlung einleiten, dann in den Hauptteil übergehen und danach zu einem Abschluss der Erzählung kommen. Wenn die Geschichte einen roten Faden besitzt, ein Thema, ein Ereignis oder einen Gedanken, wenn sie bei diesem bleibt und nicht zu oft abzweigt, damit sie gerne zu lesen ist.

Ein gutes Menschenleben ist wie wie ein guter Text. Dieses Leben besitzt eine klare Ordnung, sein Verstand wird von der Vernunft regiert. Die vernimmt, die hört, sieht und lernt. Ist die Vernunft von der Liebe geleitet, erfüllt sie einen Menschen von ersten Kapitel bis zum Ende. Erst durch die Liebe erfahren Verstand und Vernunft ihren Sinn. Eine Geschichte von liebender Vernunft lesen wir gerne. Denn sie schärft den Verstand für das Gute, weil sie uns lehrt, das Heilige von Unheiligen zu unterscheiden.

Erst durch die Liebe
erfahren
Verstand und Vernunft
ihren Sinn
.

Ester Berlin

„Was schreibst du da, Ester?“ Pfarrer Theophil Meisterberg riss mich abrupt aus dem Fluss der Gedanken. Ich wollte ihn am liebsten ausschimpfen wie man einen kleinen Jungen zurechtweist, wenn er das Gespräch von Erwachsenen stört. Aber er stellte mir die richtige Frage zur richtigen Zeit. Ja, was schreibe ich eigentlich? Übersehe ich meinem Text, sieht er fast aus wie eine philosophische Abhandlung. Wird er ein Essay über das gute Leben?

Wollte ich einen solchen Text aus meinen Fingern fließen lassen, müsste ich nun Aristoteles befragen. Aber nicht nur den alten Botaniker. Martin Buber und natürlich Emmanuel Levinas sollten auch zu Wort kommen. Dann müsste ich noch die Thora zu Rate ziehen. Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. Die würden mich zu tieferen Fragen leiten, bevor der Text nach 300 Seiten ein Ende an der Mauer aus Müdigkeit fände. Aber nein. Das wollte ich nicht. Für Abhandlungen und Essays war jetzt nicht die richtige Zeit. Lieber hätte ich die alte Katze gestreichelt, die draußen durch den Streuobstgarten schlich.

Theophil seufzte leise, bevor er freundlich fragte: „Möchtest du einen Kaffee?“ Oh ja! Ich mochte einen Kaffee. Und wie ich einen Kaffee mochte! Der Automat mahlte die frischen Bohnen aus der italienischen Rösterei zu feinem Pulver. Dann begann das vertraute Brummen. Jene betörende Sinfonie, welche das schmale Rinnsal in die Tassen begleitete. Dieser herrliche, würzige Duft! Theophil stellte sanft die Gedecke auf den großen Eichentisch. Ohne auch nur den kleinsten Tropfen zu verschütten schwebte das Geschirr aus seinen Händen herab. Der Pfarrer beobachtete gut und aufmerksam. Er wusste: Ich nehme meinen Kaffee schwarz und stark.

kaleidoskop

Nun saßen wir uns also gegenüber, zu zweit am großen Eichentisch. Ohne die anderen, nur er und ich. Alles war ruhig. Dennoch: Mir war, als versagte plötzlich meine Stimme ihren Dienst. Es vergingen lange Minuten der Weigerung, in denen ich schweigend mit dem Löffel in der Tasse rührte, obwohl es darin nichts zu rühren gab. Es waren weder Zucker noch Milch im Kaffee. Aber irgendetwas mussten meine Hände tun, damit die Finger nicht zu zittern begannen. Da bot sich der Löffel als willkommener Wohltäter an. Der Pfarrer bemerkte das. Er lächelte, bevor er fragte: „Ist der Kaffee etwa zu heiß?“ Der Löffel fand seinen Platz neben der Tasse, deren Henkel meine drückenden Finger nun beruhigte. Dann zerbrach die Stille endlich.

„Glaubst du, ich bekomme das wieder hin?“, fragte ich. Dabei begegnete ich Theophils Blick, sah in diese dunklen, warmen und freundlichen, aber doch geheimnisvollen Augen. Er lächelte wieder, jetzt versonnen, fast in sich gekehrt, immer noch freundlich, aber nicht mehr so auffordernd wie vorhin. Er dachte sorgfältig nach, bevor er antwortete. „Lass‘ uns doch erst einmal sehen, was genau passiert ist. Sobald wir das wissen, können wir gemeinsam überlegen, ob und wie wir diese Situation zum Guten wenden können“, sagte Theophil. Dann nahm er einen Schluck Kaffee, den er gerne mit einem Schuss Milch und zwei Zuckerwürfeln trank.

Taten wider die gute Ordnung zeugen böse Taten

Wieder zögerte ich. Doch diesmal rührte ich nicht im Kaffee. Das Fenster hinter dem Pfarrer offenbarte das strahlende Bild der vorweihnachtlichen Stadt. Überall an den Häusern flackerten Lichter, die gegen die Dunkelheit des Dezemberabends und den sich erhebenden Dunst ankämpften. Die Türme von St.Pirmin waren ihrer Finsternis wegen kaum noch zu erahnen. Als Epiphanie des Unheiligen verwandelte sich der versteinerte Segen der Türme in einen verhängnisvollen Fluch.

Ist es nicht der Theologe Theophil Meisterberg gewesen, der auf einem öffentlichen Platz alte Autoreifen anzündete? War nicht er es, der den Mord an dem armseligen Gerichtsvollzieher Manfred Kupfer zuließ? Hat der Theologe nicht Geschäfte mit dem Tod machen wollen, um dem Krebs zu entkommen? Und zuletzt hat er Claude Otisses Alkoholkrankheit mit Nachschub versorgt, indem er jeden Tag das Gottbier herbei schleppte. Konnte Theophil hilfreich und gut genug sein, um mit seiner Unterstützung eine gute Ordnung zu schaffen? All diese Zweifel waren es, die mich zögern ließen. Der Löffel zwischen meinen Fingern kam ungewollt der fast leeren Tasse zu nahe.

Meine Hand zitterte. Er hatte das verräterische Klingeln des Löffels an der Tasse gehört und und sofort verstanden. „Es wird wieder gut“, versuchte der Pfarrer zu trösten. Ach ja? Ich ahnte es schon. Diese Worte würde er sprechen! Trost und Hoffnung heißen die trügerischen Versuche der Theologen. Sie wollen aber nur vom selbst verursachten Leid ablenken. Gute Mächte sprechen jedenfalls nicht aus ihnen. Dennoch fühlte ich in diesem Augenblick diese überwältigende Schwäche in mir. Da war es, das drängende Bedürfnis, mich einem Menschen anzuvertrauen. Irgendeinem Menschen, der mich anhörte und guten Willens war, meine Not wenigstens zu verstehen. Warum also nicht Theophil, wenn er gerade hier war?

Da war es, das
drängende Bedürfnis,
mich einem Menschen
anzuvertrauen.

Ester Berlin

„Ich bin ratlos. Komplett überfordert. So viel Chaos, so viel Streit, so viel Gleichgültigkeit und Egoismus hat sich in den zurückliegenden Wochen in der Geistlichen Hütte zugetragen, dass ich einfach nicht mehr weiter weiß. Wohl deswegen suche ich den Rat der toten Philosophen und Religionslehrer“, beichtete ich dem Pfarrer. Ich fühlte mich unwohl wegen meiner Schwäche. Noch nie in all den Jahren habe ich die Bürde des Amtes so sehr gespürt wie in diesen Tagen. Es war nicht mehr zu leugnen, nicht vor mir selbst, nicht vor anderen: Ich war eine Versagerin. Mein Verstand und meine Vernunft lagen geschlagen am Boden.

„Diese Männer zerstören alles. Sie sind verlogen, hinterhältig und brutal. Sie gehen über mich hinweg. Sie treten mich mit Füßen. Sie missachten die neue Ordnung der Kolonie. Wie sollen jemals Gottes Freundlichkeit und Gottes Liebe unter den Auserwählten lebendig werden, wenn sogar die Geistliche Hütte in gewalttätiger Selbstsucht versinkt? Am liebsten würde ich alles hinwerfen und nach Berlin zurück gehen! Dort gibt es eher eine kommunistische Revolution als in Pirmasens ein Reich Gottes.“

Theophil hält Ordnung und hört zu

Der Pfarrer sagte nichts, zögerte die Antwort hinaus. Statt zu sprechen erhob er sich von seinem Stuhl und drückte noch einmal die Tasten am Kaffeevollautomat. Das Piepen ertönte wie gewohnt. Aber dann blinkte ein kleines, rotes Licht. Eine Warnung. „Das Wasser ist alle“, sagte Theophil, bevor er den Tank aus der rechten Seite des Geräts zog, um ihn an der Spüle nachzufüllen. „Ohne Wasser gibt es keinen Kaffee“, bemerkte er. Das war logisch. Um einen Kaffee zu bekommen, muss Wasser in der Maschine sein, Kaffeebohnen und elektrischer Strom.

Fehlt eine der Zutaten, bleibt der Kaffee-Genuss ein unerfüllter Wunsch. Theophil wiederholte die Prozedur. Jetzt leuchtete ein anderes rotes Lämpchen. „Das Tresterfach ist voll“, wusste der Pfarrer, der sich sehr gut mit der Maschine auskannte. Er zog die Lade heraus, entnahm den Container und kippte den Kaffeesatz in den Eimer für den Biomüll. Aber das gelang ihm nicht ganz. Der Theologe scheiterte, verfehlte das Ziel. Einige der rund gepressten Tresterstücke fielen zu Boden und barsten zu kleinen, klebrigen Krümeln. „Ich mach‘ das sofort weg!“

Theophil begab sich hinaus in den Vorraum und kam mit dem Staubsauger zurück. Worüber ich staunte: Der Mann wusste, dass der Sauger draußen im Besenschrank zu finden war. Den restlichen Mitbewohnerinnen der Geistlichen Hütte schien der Besenschrank ein völlig unbekannter Ort zu sein, eine gänzlich unbekannte Terra incognita. Folglich waren ihnen auch die Reinigungsgeräte fremd. Anders Theophil Meisterberg. Der Pfarrer wusste, wo er den Sauger fand und saugte die verstreuten Kaffeemucken mit größter Sorgfalt vom Boden ab.

Trotzdem er ihn eigens aufstecken musste, benutzte er sogar den Saugkopf mit der runden Bürste. Theophil drehte das Stellrad bis zum Anschlag auf die höchste Saugkraft, damit er die einzelnen Krümel aus den schmalen Ritzen zwischen den Eichendielen entfernen konnte. Die kleinen Mücken fielen tief und leisteten dem Sog beharrlich Widerstand, wollten partout nicht von der kreischenden Maschine eingeatmet werden. Doch der Pfarrer schaffte es tatsächlich, den Kaffeetrester restlos vom Boden zu entfernen. Er bewies Beharrlichkeit und einen starken Sinn für Ordnung. Wer Ordnung hält, zeigt damit seinen Respekt vor den Mitmenschen.

Somit bildete Theophil den krassen Gegensatz zu Claude Otisse. Der hatte in der Vergangenheit den verschütteten Kaffeesatz schon öfter achtlos auf dem Boden liegen lassen. Otisse scherte sich nicht um Ordnung. Mit den Füßen hat er die Krümel so tief in die Spalten zwischen den Dielen gestampft, dass ich den Trester später mit einem Messer auskratzen musste, weil der sich der Kaffeesatz nicht mehr absaugen ließ und zu schimmeln drohte. Schimmel riecht nicht gut und ist ungesund. Er musste weg, weil ich ihn nicht ertragen konnte und wollte.

Theophil hingegen achtete die Ordnung. Er trug den Staubsauger an seinen Platz zurück, reinigte anschließend die Kaffeemaschine und die Arbeitsplatte mit einem Lappen, auf den er einen Spritzer Spülmittel getan hatte. Nach dem er diese Verrichtungen beendet hatte, brachte er zwei weitere, frisch und angenehm duftende Kaffeetassen an den großen Eichentisch. Er versorgte mich und beachtete meine Wünsche. Auch wenn es keine Großtat war, sondern nur der freundlich servierte Kaffee, verstand ich diese kleine Zuwendung als ein gutes Zeichen.

kaleidoskop

Langsam fasste ich Vertrauen zu diesem Mann. Meine Hand zitterte nicht mehr. Also sprach ich aus, was mich bedrückte: „Was mit Claude Otisse passiert ist, macht mir zu schaffen. Er hat schon immer viel getrunken. Doch richtig schlimm wurde es, nach dem er im Sommer 2020 mit Hunde-Tommy aus dem Neubauviertel nach Hause kam. Wie in Trance zog er sich ins Zimmer zurück, soff kistenweise Bier und stopfte fettige Ölsardinen in sich hinein. Er war unerreichbar, reagierte auf nichts. Manchmal schien er mich gar nicht mehr zu erkennen. Er zerstörte sich vor meinen Augen selbst. Und jetzt liegt er im Koma.“

Theophil hörte aufmerksam zu. Als ich für einen Schluck Kaffee unterbrach, wartete er ab. Er blieb still. Er prahlte nicht sofort mit seiner drängenden Weisheit zwischen meine Gedanken, wie ich es bereits von vielen anderen Männern erleiden musste. Seine respektvolle Geduld fühlte sich gut an und bestärkte mein Vertrauen. Seine Zurückhaltung erlaubte mir eine feine Hoffnung. Nein, er wird kein Salz in meine Wunde reiben. Es wird nicht brennen, bluten und eitern. Welch eine Wohltat es war, diese rachsüchtige Besserwisserei nicht erleben zu müssen.

„Deine Verzweiflung verstehe ich sehr gut, liebe Ester. Mir ist es ganz ähnlich ergangen. Auch ich war Zuschauer der Tragödie. Oder war es doch eine Komödie? Otisse wollte Hunde-Tommys Freund sein. Um Hunde-Tommy zu gefallen, hat Otisse Paulas Totenhaus angezündet. Diese Bilder von Feuer und Tod haben seine Seele tief verletzt. Otisse hat die erschlagenen Kinder in ihren Betten liegen sehen. Er beobachte Hunde-Tommy, wie er die Augäpfel der schönen Paula aus den Höhlen schälte. Über diese Grausamkeiten ist er nicht hinweg gekommen. Nach dem Blutrausch fühlte er sich schuldig. Die Schuld raubte ihm den Verstand. In Wahrheit wollte Hunde-Tommy niemals Otisses Freund sein. Der Augenarzt hat Otisse nur benutzt. Er verachtete Otisse als minderwertig und dumm“, wusste Theophil.

Das Böse vermehrt sich wie Mäuse im Vorratsschrank

Da waren die bösen Taten. Sie lagen versammelt auf dem Eichentisch mitten in der Geistlichen Hütte der Kolonie der Auserwählten. Der Verrat des Dr.Thomas Busenberger an der Freundschaft, der Mord an der Familie der schönen Paula und die Brandstiftung des Claude Otisse. Der Damm war gebrochen. Diese Taten haben neue böse Taten hervorgebracht. Sie vermehrten sich wie Mäuse im Vorratsschrank, die alles Essbare vergifteten. Was geschah wirklich in Otisses Zimmer nach seinem Zusammenbruch? Eine Tat nach der anderen löste die gute Ordnung auf, stürzte die Geistliche Hütte ins Chaos und mich in die Verzweiflung.

Der Pfarrer fuhr in seiner Rede fort. Der Theologe rechtfertigte seine eigene Sünde. „Ich brachte Claude Otisse das Bier, weil ein Alkoholkranker nicht ohne Alkohol leben kann. Die Sucht hätte ihn in die verworfene Welt getrieben. Dort wäre er in seiner Depression den Mächten des Bösen schutzlos ausgeliefert gewesen. Also schleppte ich die Bierkästen in die Geistliche Hütte, damit er wenigstens unter unserem Einfluss bleibt. Fetthans vermittelte schließlich den Kontakt zu der Psychologin. Die sprach ihn an, als Otisse in der Stadt herum streunte, um den weisen Mann mit Hut zu finden. Ich hoffte, auf diesem Weg den Journalisten aus der Dunkelheit ins Licht zu führen.“

Das war es also! Glaube, Liebe und Hoffnung bewegten die Bierkästen zu Otisse. Diese drei Mächte sollen der Antrieb des Theologen gewesen sein, der seine Hände als Werkzeug Gottes wähnte. War es so, dann irrten die großen Drei. Denn sogar die Größte unter ihnen – die Liebe – hätte dann die Vernunft des Pfarrers auf den falschen Weg geleitet. Denn dieser Weg führte nicht ins Licht, sondern vertrieb auch noch das letzte Grau aus dem Schwarz der Finsternis. War das ein Werk der Liebe?

Am Ende dieses falschen Liebesdienstes fanden wir Claude Otisse dem Tode ringend und mit einem Kronkorken im Rachen. Eine wahre Liebestat wäre die Hilfe beim Entzug gewesen. Diesen nämlich hatte ich als Leiterin der Geistlichen Hütte wiederholt gefordert. Aber der Pfarrer folgte trotzig wie ein kleiner Junge seinem Irrglauben und missachtete beharrlich und gegen besseres Wissen die Erkenntnisse der Medizin und der Psychologie.

Obwohl sich das Versagen des Pfarrers nunmehr in aller Klarheit offenbarte, wollte ich nicht weiter streiten. Sicher hätte ihn die Kraft meines Amtes sofort in die Verbannung schicken können. Aber davon sah ich ab, da er nun das Gute suchte und die Ordnung herstellen wollte. Wenn Gott Theophils Irrweg bestrafen will, dann sollte sie das bitte eigenhändig tun. Hier in der Geistlichen Hütte brauchte ich Theophil als meinen Verbündeten. Gemeinsam verbannen wir das Böse in die verworfene Welt zurück, dahin, wo es hergekommen ist.

Wie das Gericht gute Ordnung bringt

Theophil unterbreitete mir einen Vorschlag, von dem er glaubte, dass er uns zum Ziel führen wird. „Wir sollten die Vorfälle zuerst genau untersuchen. Der zeitliche Ablauf der Geschehnisse wird Antworten des Möglichen und Unmöglichen liefern. Wir werden sehen, ob es eine Wahl gegeben hätte. Dann rufen wir das hohe Gericht zusammen. Es wird aus dem Leben der Täter seine Anklage erheben.“

Ich zweifelte: „Eine Anklage gegen das Leben? Wie sollte das vor sich gehen? Ein Gericht kann doch nur eine Tat anklagen, es kann Beweise würdigen und einen Täter für sein Verbrechen verurteilen. Das Gericht verlangt Sühne und Genugtuung im Namen der Opfer. Aber wie soll eine Richterin über das ganze Leben eines Menschen urteilen? Nein, das ist nicht möglich.“ Der Pfarrer erhob sich von seinem Stuhl und ging erregt vor der Küchenzeile auf und ab. Er suchte offenbar nach den richtigen Worten.

„Doch, das ist möglich“, widersprach Theophil. „Das Gericht klagt keine einzelne Tat an. Die Richterinnen haben die Anklageschrift erst in den Händen, wenn der Prozess zu Ende geht. Denn die eindringliche Befragung, das Verfahren selbst, hat das ganze Leben zum Gegenstand. Erst aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft der Angeklagten füllen sich die Kapitel und Abschnitte der anfangs noch weißen Klageschrift, die später gleichermaßen zum Urteil wird. Dieses Urteil wird ein neues Buch. Wir werden es am Ende gerne lesen, oder mit Abscheu zur Seite legen. Diese Unterscheidung ist die Strafe.“

Ein gutes Menschenleben
ist wie ein guter Text.

Ester Berlin

Theophil blieb unvermittelt neben mir stehen. Er streckte sich nach der Decke. Der schmalbrüstige, bestenfalls mittelgroße Mann wollte augenblicklich wachsen, schien auf den Fußspitzen zu balancieren. Er ruderte mit dem rechten Arm nach hinten, der linke hin unbewegt und schlaff. Falten. Der Mann hatte tiefe Furchen im Gesicht, schuppige Falten in der Beuge des Ellbogens. Eine Haut vom Aussehen eines frisch gepflügten Rübenackers.

Jetzt schleuderte er die rechte Hand nach vorne, schaute von oben herab und zeigte befehlend mit dem spitzen Finger auf den Computer. „Klapp‘ den Bildschirm auf, Ester! Du hast die Zeile selbst geschrieben: „Ein gutes Menschenleben ist wie ein guter Text.“ Dem Gericht ist aufgegeben, dieses angeklagte Leben in einen Text zu schreiben. Uns hingegen kommt es zu, diesen Text nach der liebenden Vernunft zu gliedern und ein Lebensbuch daraus zu machen. Unsere Macht scheidet das Unheilige vom Heiligen, das Verworfene vom Auserwählten. Diese Scheidung ist am Ende des Prozesses die Strafe.“

Was ist zu tun, wenn das Leben im Chaos zu versinkt? Wenn die Kraft nicht mehr ausreicht, um die richtige Entscheidung zu treffen? Wenn alles zu wanken beginnt? Eine gute, neue Ordnung schaffen. Ja. Das war die Lösung: Erst kommt die Untersuchung, dann tagt das Gericht, danach ergeht die Strafe. Ist das reinigende Tribunal überstanden, lebt die Kolonie der Auserwählten in der Fülle des Gottesreichs. Die verworfene Welt darf draußen vor den Toren vergehen, sie ist vom Buch des Lebens ausgenommen. Ihre Geschichte endet, weil unsere beginnt. Die Zeit der neuen Ordnung ist gekommen.

Ester Berlin, Pirmasens, Weihnachten 2021

Ester Berlin

Ester Berlin ist Leiterin der Geistlichen Hütte der Kolonie der Auserwählten. Sie gibt die Leitlinien der Politik vor und ist gegenüber dem Hohen Rat der Frauen verantwortlich. Dort muss Ester regelmäßig Rechenschaft ablegen.

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