Rückenschmerzen: Im Ledersessel tief versunken
Im Ledersessel tief versunken liege ich noch immer. Derart gezogen, gesogen und gebogen ersehnt mein Körper die baldige Erlösung. Doch der Ledersessel und seine schwarzen Kissen halten mich gefangen. Wie das stinkende Maul eines Ungeheuers ergreift mich dieses Möbel. Werde ich mich je wieder daraus befreien können?
Eine finstere Täuschung lockte mit dem Anschein freundlicher Bequemlichkeit in den fiesen Hinterhalt. Die Falle gab vor, sie wollte mir, dem Fremden, ein gastliches Heim für entspannte Stunden gewähren. Aber nein! Die Last meines Gewichts zieht mich umso mehr nach unten. Der Ledersessel bemächtigt sich der Schwerkraft zu seinem bösen Werk. Keine der versprochenen Annehmlichkeiten bietet dieser Ledersessel.
Allein die Tücke führt hier das Regiment, ganz und gar von jedem Heim verlassen. Doch der erlogenen Gemütlichkeit habe ich geglaubt. Nichts von der Lüge ahnend, habe ich dem Ledersessel guten Mutes vertraut, mich aus freiem Willen in seiner Tiefe versenkt. Nun aber, da ich unten ankomme, offenbart sich die harte Wahrheit. Was hilft mir jetzt das Klagen noch?
Der erlittene Betrug verwandelt sich in heißen Schmerz. Anfangs war da nur ein leichter Druck. Den verspürte ich zwar deutlich. Aber noch folgte ich dem Glauben, der Druck sei einer verdrehten Laune meines Hosenbunds geschuldet. Sodass ich dieses Drücken nicht weiter beachtete und mich immer weiter den Tiefen des Ledersessel überantwortete. Der aber steigerte das schmächtige Empfinden zur mächtigen Pein. So erweist sich einmal mehr, warum ein flüchtiges Meinen mit Fug und Recht als das schwächste und flüchtigste allen Wissens gilt. Das schönste Meinen zerbricht am Angesicht der Wirklichkeit.
Springe zu einem Abschnitt:
Aus dem Ledersessel wird eine Liege
Völlig unbedacht und dem ersten Eindruck folgend habe ich diesen unseligen Platz eingenommen. Und weil diese Frau es so wollte: „Setz‘ dich bitte dort hin, Otisse! Damit du dich besser entspannen kannst!“ Weich und warm klangen ihre Worte zum sanften Zeig ihres zarten Fingers. Arglos folgte ich ihrer Bitte und glaubte an das Versprechen des Ledersessels. Nämlich dass er ein Möbel sei, das mir bereitwillig eine wundervolle Leichtigkeit verleiht und meinen krummen Rücken stärkt.
Dass aber dieser Fauteuil der Ort meiner schlimmsten Qualen werden sollte, erfuhr ich erst, als ich bereits drinnen lag. Denn vom Sitzen mag ich gar nicht mehr reden. Sitzen hieße, eine wache Ruhe finden, einen festen und sicheren Ort zum Geschehen vor mir wählen. Doch nun liege ich flach wie zum Schlaf gebettet. Verletzlich, angreifbar und ungeschützt bin ich jeder Willkür ausgeliefert.
Kaum berührte mein fallender Rücken die Lederkissen, da gab das Polster auch schon nach. Es stürzte mit mir, schlug krachend zur Horizontalen um, rastete ein wie eine Zellentür ins eisige Schloss. Ich schrie wegen der Schmerzen zwischen den Lendenwirbeln, wegen des glühenden Messers im Rücken. Ist dieser Ledersessel mein Sterbebett?
Während mich die Qualen in den Tiefen des Ledersessels winden, wo ich vergeblich nach einer erträglichen Haltung suche, verschwindet die Frau unvermittelt in der Weite des Raums. Dann nähert sich ein schweres, auf kleinen Rädern über den Holzboden rollendes Geräusch von hinten. Die Frau rückt ihren Ledersessel in einiger Entfernung seitlich hinter meinen Kopf. Dort kann ich sie zwar hören, aber kaum sehen, allenfalls den halben Schatten. Bemerkt sie mein Leiden nicht? Will sie meine Schmerzen nicht erkennen? Fühlt sie kein Mitleid?
Jeder Versuch misslingt. Sobald ich den Körper in ihre Richtung drehe, rast der Schmerz noch heißer brennend aus meinen Lenden in die Beine. Folglich bleibe ich auf dem Rücken liegen. Zwar spüre ich so ein wenig Linderung. Doch weil die Kissen keinen Halt gewähren, schlägt der Blitz bei jeder kleinen Bewegung, nach jedem gehauchten Zucken aufs Neue ein. Vielleicht sind es der Schmerz und die missliche Lage, die zum Unglück vereint meine Sinne schärfen. Ich höre die Bewegungen der Frau im knarzenden Ledersessel, das Gleiten ihrer Schuhe über den Dielen, sogar ihr leises Atmen dringt zu mir vor.
„Was ist los mit dir, Otisse?“, fragt sie im Ton ungläubiger Verwunderung. Wie Hohn klingen diese Worte. Die Zuschauerin meiner ärgsten Qualen räkelt sich behaglich mit den Kleidern raschelnd in ihren Polstern. Offenbar genießt sie das Schauspiel meiner schmerzlichen Starre. Sie erfreut sich an meiner Gefangenschaft in im Ledersessel. Ich habe keine Wahl, verleugne den inneren Aufruhr und antworte.
„Mein Rücken schmerzt!“
„Dein Rücken?“
„Ja, mein Rücken!“
„Das ist der Seelenschmerz!“
„Nein. Es ist die Bandscheibe.“
„Erzähle mir von deiner Angst!“
Wie kommt sie nur auf diese verrückte Idee vom Seelenschmerz? Alleine der alles verschlingende Ledersessel ist schuld. Das hinterhältige Stück zerquetscht meine Bandscheibe zwischen den Lendenwirbeln. Der Ledersessel bedient sich der schlichten Mechanik physischer Gewalt. Die Macht der Schwerkraft und die rohen Kräfte der Biegung wirken auf meinen Rücken ein. Davor habe ich Angst. Angst vor diesen Kräften. Davon kann ich der Frau erzählen.
„Ich fürchte die Schmerzen!“
„Was ist das für ein Schmerz?“
„Ein stechendes Brennen.“
„Wann kommt das Brennen?“
„Wenn ich mich bewege!“
„Es ist die Angst. Die Angst lähmt dich.“
Wieder verhöhnt sie mich. Diese Frau thront über mir und schaut schräg von oben auf mich herab. Sie meint zu wissen, was in mir vor sich geht, wähnt sich um meine Gefühle wissend. Natürlich versuche ich, die Schmerzen zu meiden. Auf dem Rücken liegend ziehe ich die Füße an, bis die Knie spitz angewinkelt nach oben zeigen. Diese Haltung verschafft mir für wenige Sekunden eine kleine Erleichterung. Sobald jedoch das Kissen unter mir nachgibt, kommt der Schmerz umso stärker zurück.
Die Angst schützt vor Rückenschmerzen und Tod
Also hat die Angst jedes Recht, wenn sie mich vor der Bewegung warnt. Ohne die Angst wäre ich vielleicht schon tot. Denn ist ein Nerv erst einmal geklemmt, entzündet er sich und schwillt an. Mit der Schwellung wächst der Druck auf die wunde Stelle. Daraus wächst der Schmerz, der mich vernichten will. Der Puls rast. Ich atme flach und schnell, schwitze kalt auf der Stirn. Mein Herz leidet. Es könnte plötzlich stehen bleiben oder zu flimmern beginnen. Davor warnt mich die Angst. Deswegen ist die Angst vernünftig und gut.
„Du musst die Angst überwinden, Otisse!“
„Ich will nicht sterben!“
„Woran könntest du jetzt sterben?“
„An den Schmerzen!“
„Der Schmerz geht, wenn die Angst geht.“
„Nein. Die Angst schützt mich vor dem Schmerz!
Ich stöhne auf. Wieder lodern diese Flammen empor. Unwillkürlich klatschen meine Hände auf das haltlose Kissen unter meinen Hüften. Der Bauch bläht sich, die Blase ist voll. Dringend muss ich zur Toilette. Ich will hier raus. Aber der Ledersessel hält mich in seiner Tiefe fest. Der verzweifelte Versuch, meinen Körper aufzurichten, erpresst meinen spitzen Schrei. Noch einmal falle ich. Noch einmal stürze ich hinab in dieses lederne Höllenfeuer. Diese Frau lacht wie ein Teufel, der sich an den Qualen der Verdammten erheitert und sie lustvoll mit dem Folterhaken malträtiert.
Ihre Fragen sind die Stiche meiner Erniedrigung. Unter der Tortur wird mir langsam klar: Diese Frau hat einen Plan. Sie brachte mich in diese aussichtslose Lage, um mich zu unterwerfen. Womöglich wusste sie sogar von meiner schwachen Bandscheibe. Das scheinbar zufällige Treffen vor ihrer Haustür könnte arrangiert gewesen sein. Ich war auf der Suche nach dem Mann mit Hut. Er ist der Wissende, der Antworten auf die Fragen meines Lebens weiß. Davon erzählte ich der Fremden, weil ich auf ihre Hilfe hoffte.
Diese Frau weiß aus geheimnisvollen Quellen um meine Schwächen. Sie kennt die Gründe meiner Suche nach dem Wissenden, all die offenen Fragen meines Lebens. Erneut zuckt der Blitz in meinen Lenden, er unterbricht den Strom meiner Gedanken. Das Mosaik bleibt unvollendet, das Rätsel ungelöst. Ich vermag die Teile nicht zu einem Bild zu fügen. Just in diesem Augenblick sticht die Teufelin mit ihrer drei zackigen Forke zu. Sie peinigt mich mit einer neuen Frage.
„Wie war das damals, als du tagelang nicht mehr auf die Gasse wolltest, um mit den anderen Kindern zu spielen? Hattest du schon als Kind große Angst, der Schmerz könnte wiederkommen?“
Ich ergebe mich der Übermacht und richte meinen Blick nach oben. Auf dem Weiß der Zimmerdecke erscheinen Bilder. Zuerst verschwimmen sie noch, sind schemenhaft und blass. Doch dann richtet eine Geisterhand die Linse des Projektors aus. Der Film läuft an. Um mich herum geht das Licht aus. Die Schmerzen lassen nach. Sogar der Ledersessel gerät in Vergessenheit. Ich liege und höre, wie mein Mund zu erzählen beginnt.
Samstags heulen um 12 Uhr die Sirenen
Es geschah an einem warmen Samstag im Frühling des Jahres 1968. Ich war noch keine fünf Jahre alt. Ich staune selbst ein wenig, wie klar und präzise diese Bilder plötzlich auftauchen. Doch dieser Samstag hat sich unvergesslich in meine Erinnerung eingebrannt. Woher weiß ich so genau, dass es ein Samstag war?
Die Samstage dieser Zeit waren in Pirmasens besonders. Sie unterschieden sich deutlich von allen übrigen Wochentagen. Zwar ging Vater auch samstags um 7 Uhr zur Arbeit in die Fabrik. Aber er blieb nur bis zum Mittag. Pünktlich um 12 Uhr heulten in der ganzen Stadt die Sirenen. Der Dauerton entließ die Arbeiter ins Wochenende. Morgens kaufte Mutter in den umliegenden Geschäften fürs Wochenende ein. Deswegen blieb ihr keine Zeit für längere Verrichtungen in der Küche. Trotzdem gab es samstags ein warmes Mittagessen.
So pünktlich wie die Sirene heulte, stellte Mutter den großen, schwarzen Topf voller dampfender Erbsensuppe auf den Tisch, die schon am Vorabend auf dem Herd vor sich hin geköchelt hatte. Neben dem Topf richtete sie den großen Teller mit soeben in der Metzgerei gekauften und frisch erhitzten Rindswürsten. Genauer gesagt lagen drei dieser Kostbarkeiten auf dem Teller. Für jeden am Tisch eine Wurst? Mitnichten.
Gerechtigkeit buchstabierte meine Familie anders. Zwei der drei Würste bekam Vater. Dabei verstand es sich von selbst, dass Mutter die Würste in kleine Häppchen schnitt, bevor sie die Stücke in Vaters Teller gab und danach mit der Kelle einen Schlag Suppe darüber goss. Die dritte Wurst teilte sich Mutter mit mir. So wie zuvor Vaters schnitt sie auch meine Hälfte in derselben Weise zurecht und tat sie mir auf. Dann folgte eine halbe Kelle von der grün schimmernden Erbsensuppe. Das Samstagsmahl konnte beginnen.
Mein Lieblingsgericht war die Erbsensuppe nicht. Sie schmeckte nach gekochten Karotten und dem Kraut aus dem Bündel, das Mutter im Gemüseladen gekauft hatte. Trotzdem musste ich den Teller leer essen, bis das Pferdchen auf dem Grund des Tellers auftauchte. Ich löffelte die Suppe langsam. Es dauerte eine Weile bis ich aufgegessen hatte. Die saftigen Wurststücke hingegen verschlang ich mit großer Lust. Es knackte so schön beim Zubeißen.
Vaters Appetit war größer. Gierig schlürfte er den Rest seiner Suppe, indem er den Teller mit beiden Händen anhob, ihn zum Mund führte und die Suppe unter lautem Schmatzen ansaugte. Das brodelnde Geräusch erinnerte an den langen, grünen Schlauch des Kobolds, wenn dieser herunter gefallene Brotkrümel aus der hinteren Ecke der Küche saugte. Dann verlangte Vater Nachschlag und bekam noch eine Kelle Suppe und die zweite Wurst.
Als er mit dem Nachschlag fertig war, erzählte Vater von seiner Woche in der Fabrik. Er klagte spöttisch über die dummen Fehler der Hilfsarbeiter und lobte den Fleiß der Franzosen. Und natürlich berichtete er ausführlich, was der Chef gesagt hat und wie er, der große Techniker, das verzwickte Problem einer Maschine löste. Mitten in einem von Vaters wichtigen Sätzen klopfte jemand an die Wohnungstür. Dann klingelte es, bevor es wieder klopfte. Vater verstummte, Mutter ging und öffnete.
Michael stand draußen vor der Tür. Michael wohnte mit seinen Eltern in der Wohnung über uns. Er war vielleicht ein halbes Jahr älter als ich und einer meiner Spielkameraden. Er fragte, ob ich mit ihm hinunter auf die Gasse darf. Meine Eltern beratschlagten sich kurz, während ich ins Schlafzimmer rannte, die kurze Krachlederne überzog und in die Schuhe schlüpfte. Mutter erlaubte eine Stunde, dann werde sie mich rufen. Vater hielt sich aus diesen Dingen heraus. Außerdem legte er sich nach dem Samstagsmahl auf das Chaiselongue und wollte nicht gestört werden.
So rannten Michael und ich durchs Treppenhaus hinunter auf die Gasse. Einige Kinder waren schon da, andere kamen noch hinzu. Langsam füllten sich die Trottoirs. Die Jungen und Mädchen spielten Nachlaufen, Verstecken, Himmel&Hölle, Fußball und Völkerball, andere fuhren auf dem Ballonroller oder mit dem Fahrrad umher. Auch Michael besaß ein Kinderfahrrad, das er noch schnell aus dem Keller holte. Wir wollten zusammen um den Block fahren. Aber mein Fahrrad hatte einen Platten. Also wurde nichts aus der gemeinsamen Tour. Doch Michael hatte eine spannende Idee.
Filmriss. Just in diesem Moment holt mich der Ledersessel in die Gegenwart zurück. Die Rückenschmerzen rasen wieder durch die Lenden. Ich will das Becken etwas nach links zur Seite drehen. Aber das Kissen ist zu tief, ich liege in einer Mulde. Der Widerstand des Ledersessels ist zu groß. Also versuche ich die rechte Seite. Weich ist hart, zu hart in diesem Fall. Ein wilder Fluch formt sich auf meiner Zunge. Aber ich spreche ihn nicht aus.
„Was ist los, Otisse? Erzähl weiter! Ich möchte hören, was für eine Idee der Michael hatte. Was habt ihr gemacht, dein Freund und du?“, fragte sie Frau ungeduldig. Ich zog die Füße an, wendete den Blick zur Decke, schloss für einen Augenblick die Augen. Als ich sie öffnete, flackerte das Bild an der Decke und der Film ging weiter.
Ein blutiges Rennen um den Häuserblock
Michael wollte ein Rennen um den Häuserblock mit mir machen. Wer denn schneller wäre? Er auf dem Kinderfahrrad oder ich auf den Füßen? Aber nicht in der gleichen Richtung nebeneinander her sollten wir uns bewegen, sondern jeder für sich in der Gegenrichtung an den Häusern entlang. Wer zuerst an der diagonal gegenüber liegenden Ecke ankam, sollte der Gewinner sein. So lautete die Regel. Also begaben wir uns an die Ecke Herzogstraße/Waldstraße, wo wir uns Rücken an Rücken aufstellten. Ziel war die Ecke Vogelstraße/Landgrafenstraße. Auf die Plätze! Fertig! Los!
Michael radelte, ich rannte. Ich hastete an den Häusern der Waldstraße vorbei, wich vergessenen Mülltonnen aus, gelangte an die Gastwirtschaft Waldeck, bog um die Ecke und hatte schon das Ziel vor Augen. Wen ich aber nicht sah, war Michael. Daher strengte ich mich richtig an. Ich schwitzte, die Krachledernen rieben auf der Haut. Weil ich gewinnen wollte, war mir das egal. Dann geschah, was hätte nicht geschehen dürfen.
Michael war gleich schnell unterwegs wie ich. So kam es, dass wir genau an der Zielecke zusammenstießen. Der Aufprall war hart. So hart, dass er uns beide auf den Asphalt schleuderte. Michael weinte laut und lag auf dem Bauch. Ich war zur Seite gefallen und weinte ebenfalls. Meine Hand war nass und rot. Ich blutete aus dem linken Bein. Im Oberschenkel klaffte eine lange und breite Wunde, aus der das Blut hervor quoll wie das Wasser eines Brunnens. Nun schrie ich laut nach Hilfe. Ein Mann trat aus dem Gittertor vor einem der Häuser heraus.
Nach dem er mich begutachtet hatte, zog er seinen Gürtel aus der Hose, legte ihn um meinen Oberschenkel und zog ihn fest. Ich blutete weniger. Er sagte, das Schutzblech von Michaels Kinderfahrrad hat die Schlagader durchgeschnitten. Dann kamen die Schmerzen. Ich rief nach Mutter und wollte nach Hause. Da ich aber nicht gehen konnte, brachte jemand eine Wolldecke. Dann legten sie mich auf das Trottoir. Unterdessen radelte Michael zurück und alarmierte meine Eltern. Ich hörte, wie sich das Tatütata näherte.
Bald schon hielt ein Krankenwagen vom Roten Kreuz. Die Sanitäter trugen graue Uniformen und Schirmmützen. Eilig holten die Männer die Liege aus dem beigefarbenen VW-Bus und hoben mich darauf. Gerade als sie mich in den Krankenwagen schoben, kam Mutter an. Der Mann, der mein blutendes Bein abgebunden hatte, erzählte ihr kurz, was passiert war. Der Krankenwagen fuhr los. Wieder ertönte das Martinshorn. Der Weg führte in die Kaiserstraße zu Dr.Meyer, einem Unfallarzt und Chirurgen.
Dort verpassten sie mir eine Narkose und nähten die Wunde wieder zu. Wovon ich jedoch nichts mitbekommen habe. Als ich erwachte, lag ich im Wohnzimmer auf dem aufgeklappten Chaiselongue. Mutter kochte Tee, brachte Kekse und setzte sich neben mich. Dort erzählte sie von der Operation bei Dr.Meyer und dass ich nun länger ruhig liegen sollte, damit die Wunde gut verheilt. Ich war müde und hatte oft starke Schmerzen im Bein.
Claude Otisse überwindet die Angst
„Ja, das war ein schmerzhaftes Erlebnis“, bestätigte die Frau im Ledersessel hinter mir. Der Ledersessel unter mir bereitete quälte mich noch immer. Doch jetzt gelingt es mir endlich, mich auf die linke Seite zu drehen. Weil ich den Kopf nach hinten überstrecke, kann ich die Frau sehen. Entspannt und lächelnd sitzt sie mit übergeschlagenen Beinen, etwas auf einen Notizblock kritzelnd. Ihr Ledersessel ist ein besseres Modell als meiner. Ihrer sieht jedenfalls viel fester und bequemer aus.
„Du darfst jetzt aufstehen, Otisse!“
„Aufstehen? Mit diesen Rückenschmerzen?“
„Probier‘ es einfach!“
„Aber der Ledersessel ist zu weich. Ich komme nicht hoch.“
„Doch. Stütze dich einfach mit den Händen ab.“
Tatsächlich, sie hat Recht. Zwar spüre ich die Rückenschmerzen noch. Aber ich schaffe es mit einiger Kraft, meinen Körper aus der Tiefe des Ledersessels empor zu heben. Auch die fremde Frau verlässt ihren Platz und stelle sich vor mich hin. Sie sagt: „Komm‘ nächste Woche um die gleiche Zeit wieder. Meine Klingel ist die erste in der Reihe.“ Ich verlasse die Wohnung. Dann stehe ich wieder auf der Straße. Am ersten Klingelknopf steht der Name dieser Frau: Miriam Rosen, Psychoanalytikerin. Den Mann mit Hut sehe ich noch immer nicht. Vielleicht treffe ich den Wissenden nächste Woche. Ich humple gebeugt heimwärts in die Kolonie.
Claude Otisse