Treibjagd: Die liebe Umerziehung der bösen Herren
Wie mag sich eine Wildsau bei der Treibjagd fühlen? Getrieben, den nahenden Tod fürchtend, hechelnd und grunzend durchs Unterholz galoppierend? Wenn versucht, den Treibern, Hunden und Jägern zu entkommen? Doch selbst die vertraute Fichtenschonung stinkt plötzlich erbärmlich nach Mensch und Hund. Wohin denn nur? Wohin denn nur?
„Warum fürchtest du dich so sehr, Otisse?“ Dafür ist er nach Monaten zurückgekehrt, dieser Hunde-Tommy? Bloß dass er mir diese Frage stellen darf? Obwohl Hunde-Tommy bisher beharrlich schweigt und niemanden in der Kolonie offenbart, wo er sich mit dem nunmehr völlig verbeulten Auto der Dorida-Brüder herumgetrieben hat, will er hingegen von allen alles wissen.
Überdies erscheint das Unmögliche fast wahr zu sein. Hunde-Tommy liest in den Gesichtern die Gefühle und Gedanken der Menschen. Er, der Psychotiker, der er sein Leben von leeren Kefir-Bechern bestimmen lässt. Ausgerechnet er. Obgleich ich ihm zustimmen muss. Friedlich ist das Leben in der Pirmasenser Kolonie. Lediglich gelegentliche Dispute und Meinungsverschiedenheiten mit Theophil Meisterberg.
Springe zu einem Abschnitt:
Die Treibjagd der Gefühle
Trotzdem fühle ich ständig eine Bedrohung. Da ist dieses Etwas in mir. Dieses monströse Etwas will mich vernichten. Sobald das Etwas mich zu schieben, treiben, stoßen und jagen beginnt fliehe ich in Ester Berlins Hütte und wieder zurück. Sooft ich auch renne, so sehr wächst die Klemme meiner Schläfenlappen. Das Knacken und Bersten hindert mich am Schlaf. Schließlich sehe ich Svetlana. Die Ex-Terroristin kann keine Strohsterne. Also bastelt sie vorweihnachtliche Rohrbomben für den Advent im Supermarkt.
Keine Nacht vergeht in Esters Hütte ohne das Geschmatze, Geschlecke und Gestöhne der beiden Frauen bei ihrem Liebesspiel. Dazu habe ich nach Esters bravourösem Liebesschwur meine bürgerliche Existenz aufgegeben und bin in die Kolonie gezogen. Svetlana, die Treiber, die Hunde und die Jäger sind ein und dasselbe. Schließlich ist es Svetlanas Lust am Töten. Jetzt tötet sie mich.
Qualen der Eifersucht
„Hör auf, Otisse!“ Hör auf!“ Hunde-Tommy unterbricht rüde kreischend meine Gedanken. „Nicht Svetlana tötet dich. Es ist deine Eifersucht.“ Darum glaube ich nun wirklich, dass er es kann. Hunde-Tommy sieht in mich hinein. Jedenfalls liest er Gesichter, so auch das meine. Denn er wählt den richtigen Moment der Unterbrechung. Bevor der Hass meine Seele vollends in Besitz nimmt und diese Besessenheit nie mehr exorzierbar sein wird, lädt er mich zu einem Spaziergang ein.
„Im Männergesundheitszentrum in der Neufferstraße hat Salome zwei Mitglieder der Vogelschiss-Partei im Käfig. Komm Otisse. Nimm deine Kamera und lass‘ uns schauen, wie sie die kranken Typen behandeln!“ Obgleich die Treibjagd in meinem Kopf noch eine Weile nachhallt, schiebe ich die Verfolger doch in den Hintergrund. Somit schiebe ich den Akku in die Knipse und schraube das Weitwinkelobjektiv drauf. Dann ziehen wir los. Draußen ist es noch warm. Obwohl schon November, reichen kurze Ärmel aus.
Zwei Vogelschisser und das Grundgesetz
Wiewohl wir geschwind die Stadt durchschreiten und das Männergesundheitszentrum erreichen, erstaunt es mich nun doch. Tatsächlich hat Salome N’Kosa zwei führende Vogelschisser und Holocaust-Leugner zur Umerziehung bei sich. „Die beiden meinten, das Männergesundheitszentrum sei ein Domina-Studio“, sagte Salome. Während sie daneben steht und eine Großausgabe des Grundgesetzes in Händen hält, windet sich der Vogelschisser auf dem Seziertisch unter Schmerzen. „Alleine der Anblick dieses Buches reicht, um diese Typen zu bestrafen.“ Damit demonstriert Salome die Wirkung des Grundgesetzes auf die Vogelschisser.
Treibjagd der totalen Unterwerfung
„Das hier ist eine Treibjagd mit dem Ergebnis der totalen Unterwerfung. Die Typen haben erotische Empfindungen, aber wir haben die Macht und führen die Regie“, sagte Salome und hob das blau-rote Tütü eines im Käfig wartenden Nationalisten. Bevor sie die beiden für eine Woche in die Freiheit entlässt, müssen beide die Artikel 1 bis 19 aus dem Grundgesetz rezitieren.
Beherrscht von ihren Sextrieben folgen die Männer willenlos den Anweisungen. Jedoch verziehen die Vogelschisser unter dieser Demütigung leidend das Gesicht. Dennoch werden sie wiederkommen. Dann wird ihnen das Grundgesetz nicht mehr reichen. Weil auch die Lust am Schmerz eine Steigerung verlangt. Das ist Salomes Trumpf und Triumph.
Bericht: Claude Otisse
Foto: Claude Otisse