Trauerfeier: Gottes harter Arsch
Eben besuchte ich eine Trauerfeier auf dem Land. Einfach so und spontan. Obwohl der weißhaarige Pfarrer hoch auf der Kanzel stand wie Gott auf Michelangelos römischem Fresko, verstand ich kaum eines seiner Worte. Umso mehr er in seinen grauen Bart nuschelte, schluchzte und schnäuzte zudem die blond gefärbte Frau neben mir. Darum rückte ich in der hintersten Kirchenbank einen Meter von ihr ab.
Dadurch vernahm ich den Nuschelmenschen um einiges besser. Offenbar war ich ins Zentrum des von weißen, schmucklosen Wänden zurückgeworfenen Schalls gerückt. Andererseits versperrte mir nun ein Pfeiler der Empore die Sicht auf Kanzel und Altar. Auch wenn dies bei einer Beisetzung von eher untergeordneter Bedeutung sein sollte. Dieser Pfosten ist einfach zu dick.
Aber auch zu meiner Rechten saß eine Frau. Sie war deutlich älter als die Blonde. Darüber hinaus wirkte sie zart und zerbrechlich. Sodass es mir doch unhöflich erschien, die angenehm leise weinende Dame zum weiter rücken zu bewegen. Also fügte ich mich und blieb hinter dem leidigen Pfosten sitzen.
Springe zu einem Abschnitt:
Ein Grundpfeiler der Kirche verstellt den Blick nach vorn
Da ich trotzdem nicht fortwährend auf den bröckelnden Putz des Pfostens starren wollte, schloss ich die Augen. Dafür lauschte umso aufmerksamer den Ausführungen der Nuschelstimme. Damit schärfte sich mein Gehör. Denn umso länger ich die Lider geschlossen hielt, desto weniger nuschelte der Mann auf der Kanzel. Sogar das hölzerne Knarren und Knarzen unter den schweren Füßen des Pfarrers vernahm ich plötzlich klar und deutlich.
Solange jedenfalls, bis mein Gehirn auch dieses Geräusch aus Flut der Worte filterte. Auf der harten Eichenbank sitzend, geriet ich in einen zarten Dämmerzustand. Dennoch blieb ich wach genug, um dieser Trauerfeier zu folgen.
Der Lateinlehrer spricht bei der Trauerfeier
Gleich nach dem Pfarrer trat ein weiterer Redner vor die Trauernden. Der stellte sich als Schwager des Verstorbenen und Lateinlehrer vor. Zuerst verlas er pflichtgemäß die zu Papier gebrachten Trauergrüße der Verwandtschaft. Danach hob der Lehrer zu seinem persönlichen Vortrag an. Es ist schwer zu schätzen, wie viel Zeit der Mann mit der Vorbereitung zubrachte. Aber ich vermute, er hat etliche Nächte über diesen Zeilen gebrütet. Als Ergebnis präsentierte der Lehrer die Geschichte eines Schrankes, den er in einem schwedischen Möbelhaus erworben hatte.
Der schwedische Schrank
Einestages habe er, der ostfriesische Lateinlehrer, in seinem Domizil den besagten schwedischen Schrank aufbauen wollen. Doch sei er als Intellektueller an dieser Aufgabe mangels handwerklichem Geschick wiederholt gescheitert. Folglich sendete er einen Hilferuf an den hier betrauerten Verstorbenen. Der Tote habe sich zu Lebzeiten gerne mit Holzarbeiten und Möbeln beschäftigt. Und tatsächlich habe sich dieser auf den Weg aus der Pfalz nach Ostfriesland gemacht.
Das Praktische sei schon immer die Leidenschaft des Verstorbenen gewesen, meinte der Lateinlehrer. Während dem vorzeitig aus dem Leben geschiedenen jedoch Bildung, Sprache und Schrift wegen einer Behinderung verwehrt geblieben seien, so der Lehrer. Genau dieser Mangel habe dann zu einem beinahe folgenreichen Missverständnis beim Aufbau des schwedischen Schranks geführt.
Allerdings drohte der Unterschied zwischen den Worten „heben“ und „halten“ das Unternehmen als Katastrophe in die Chronik der Familie einzuschreiben. Der Verstorbene sagte – so zitierte der Studienrat – „heb‘ e mol des Brett“. Während der Dialekt sprechende Pfälzer halten im Sinne von festhalten meinte, verstand der ostfriesische Intellektuelle, er solle das Brett hochheben. Was er auch tat. Deswegen wäre der schwedische Schrank wegen der einfachen Sprache des Verstorbenen beinahe zusammengekracht.
Weiterhin berichtete der Lehrer von seiner Art des Trauerns. Immer wenn er seit dem Tod des Pfälzers an lauen Sommerabenden zwischen dem Farn hinter seinem Haus ein Heideröslein sehe, fühle er sich dem Naturburschen ganz nahe. Um seiner Rede einen findigen Schluss zu verleihen, sagte der ostfriesische Lehrer, jetzt sei „auch er mit seinem Latein am Ende“.
Wie gut ich es dann doch hinter meinem dicken Pfosten hatte! Dort sah niemand mein unwillkürliches Grinsen über diesen Menschen aus Ostfriesland. Indessen der Trauergemeinde um mich herum das Entsetzen über den Lateinlehrer trotz aller gebotenen Zurückhaltung anzumerken war.
Der Tod ist der harte Arsch Gottes
Der Pfarrer pries die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. Er sprach: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen!“ Gott könnte also jetzt schon helfen. Will es aber nicht.
Sogleich fiel mir der zugegeben etwas derbe Ausspruch unseres Kolonie-Pfarrers Theophil Meisterberg ein. Ihn ereilte nun selbst der Tod in Gestalt eines Tumors im Bauch, der ihm gnädig noch die Frist eines halben Jahres gewährt. „Der Tod ist der eiserne Arsch Gottes!“
Auf das Ende vorbereitet sein
Klar ist Theophil wütend auf die Krankheit, auf den Tod und auf Gott. Er würde 600 Menschen töten, um dem vorzeitigen Abbruch seines Lebens zu entgehen. Wohingegen er trotz oder vielleicht auch wegen seiner Wut eine tiefe Erkenntnis gewinnt. Wenn tatsächlich ein, eine oder sonst wie Gott die Menschen erschaffen hat, dann wollte Gott, dass wir leiden und sterben. Somit sind der Tod und Gott ein und dasselbe. Der ist die Rückseite der gütigen und liebenden Gott oder des Gottes – „der eiserne Arsch“. Bloß dass ich wie verrückt an das sportliche Hinterteil von Ester Berlin denken musste.
Nun ging die Trauerfeier für den mir unbekannten Verstorbenen zu Ende. Einer schritt voran. Er trug die Urne aus der Kirche. Die Trauergemeinde folgte ihm. Ob auch der römische Poet noch unter den Gästen weilte? Möglich. Nichtsdestotrotz ist mir das egal. Aber wenn der Tod unseren Theophil abholt, will ich besser auf die Trauerfeier vorbereitet sein.
Bericht: Fetthans
Digitales Bild: Fetthans