Wer ist Ralleboller?
Niemand hatte ihn gerufen. Niemand hatte ihn eingeladen. Niemand kannte ihn bis zu diesem einen Tag im Frühling. Er war plötzlich da: „Ich bin Ralleboller!“ Ein fester Nachdruck lag in seiner Stimme, als er herantrat und sich vorstellte. Dabei erschien Ralleboller mit einer sicheren Selbstverständlichkeit, als sei er schon immer bei uns gewesen und werde auch immer zu uns gehören.
Wir staunten sehr über diesen Fremden. Der Mann zeigte keinerlei Hemmungen oder Kontaktängste. Neben seiner beeindruckend muskulösen Erscheinung ließ uns außerdem der Name Ralleboller aufhorchen. Ralleboller? Einer mit diesem Namen ist mir noch nie zuvor begegnet. Meinen Begleitern erging es nicht anders. Zumal er nur diesen einen Namen nannte. Es mag ja vielfältige Gründe geben, seinen Vornamen nicht zu nennen und auch nicht zu benutzen. Etwa wenn dieser derart hässlich oder langweilig klingt, dass er wie ein böser Schatten über einem Menschenleben liegt.
So wie in Pirmasens die Vornamen Kevin, Chantal oder Ramona auf eine prekäre soziale Herkunft verweisen können. Obwohl kaum jemand eine derart diskriminierende Haltung freiwillig öffentlich zugeben mochte, hatten die Trägerinnen derartiger Vornamen mit allerlei Schwierigkeiten und Hindernissen in Schule und Beruf zu kämpfen. Man unterstellte ihnen – ob absichtlich oder in unwillkürlichem Vorurteil – eine gewisse Bildungsferne und sogar eine Neigung zu Faulheit und Dekadenz.
Eine weitere Möglichkeit fiel mir doch noch ein. Mal angenommen, Ralleboller hieß in Wahrheit Ralf Boller. Dann wäre ihm der Klang seiner Namen womöglich zu gewöhnlich und blass vorgekommen und hat die beiden Worte zum Ralleboller zusammengezogen. Für diese Annahme würde sein überaus selbstbewusstes, bis hin zur Anmaßung reichendes Auftreten sprechen. Denn diese seine Präsenz rief eine zwar wortlose, aber trotzdem unmissverständliche Botschaft: „Ich will Aufmerksamkeit!“
Zunächst hatte er damit den gewünschten Erfolg. Wir schenkten dem Fremden unsere Aufmerksamkeit. Jedoch stieß diese erzwungene Beachtung offenbar nicht immer auf Wohlwollen. Claude Otisse bleckte die Zähne wie ein knurrender Hund, während er den breitschultrigen Ralleboller abschätzig von der Seite musterte. Dieser bemerkte zwar Otisses augenscheinliche Verachtung, reagierte nicht weiter darauf. Er beantwortete die schrägen Blicke des übergewichtigen Journalisten seinerseits mit einem prüfendem Blick, indem er die Augen an Otisses Leibesfülle entlang vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück wandern ließ.
Während die Spannungen zwischen Ralleboller und Otisse sofort erkennbar waren, schaute Hundetommy betreten zu Boden. So, als würde er sich schämen. Offenbar erlebte er die Situation als peinlich und unangenehm. Wobei ich nicht unterscheiden konnte, ob es sich um Selbst- oder Fremdscham handeln mochte. Ob er sich gegenüber dem Kraft strotzenden Ralleboller klein und schwach fühlte? Durchaus möglich. Denn Hundetommy neigte für gewöhnlich zur Angeberei und Selbstüberhöhung, wenn auch in gänzlich anderer Weise als es Ralleboller tat.
Eine Haltung, die in der verworfenen Welt allgemein akzeptiert und sogar mit Anerkennung belohnt wird. Innerhalb der Pirmasenser Kolonie der Auserwählten ist diese Haltung nicht gerne gesehen. Bei uns die Tugend der Bescheidenheit gefordert. Dieser Ralleboller schickte sich an, unseren Augenarzt in Sachen Selbstüberhöhung auf die Plätze zu verweisen.
Nicht dass Ralleboller unbefugt das Gelände der Kolonie betreten hätte. Das Wagnis ging er nicht ein. Hundetommy, Otisse und ich saßen entspannt auf einer Bank vor dem großen Tor, als sich der Fremde von der Stadt her kommend näherte. Es war gewöhnlicher Mittwochnachmittag. Die Frühlingssonne schien mit freundlicher Wärme auf uns herab, während wir den Blick auf das sich am östlichen Horizont ausbreitende Pirmasens genossen. Es war einfach ein Genuss, aus der Ferne das Glitzern des Reflexionen in den Fenstern der Häuser und die Schatten der vorüber ziehenden Wolken zu beobachten.
Springe zu einem Abschnitt:
Ralleboller verspricht Halt und Orientierung
Ralleboller erkannte uns wohl nicht als Angehörige der Kolonie. Fraglich, ob er überhaupt von der Existenz der Kolonie der Auserwählten wusste. Er mag uns wohl für arbeitslose Männer gehalten haben, die sich den schönen Nachmittag mit einem Spaziergang zum westlichen Stadtrand vertrieben. Vielleicht erdreistete er sich auf Grund dieser Annahme zur in unseren Ohren unverschämt klingenden Ansage: „Ihr müsst mir zuhören. Ich kann euch aus der Misere retten und in eine wundervolle neue Zeit führen.“ Ralleboller hielt sich offenbar für eine Art Messias der Armen. Eine Art religiöse oder politische Mission oder beides? Das wäre möglich. Schließlich traten seit Jahren immer mehr dieser eifernden Gurus, Coachs und Influencerinnen auf.
Es herrschte ein unsicheres, von tiefen Zukunftsängsten bestimmtes Lebensgefühl unter den Mitlebenden. Exakt dieses Gefühl der Verunsicherung nutzen diese selbst ernannten Heilsprediger zu ihrem Vorteil aus. Allerdings fragte ich mich: Wie kommt das deformierte Muskelpaket auf die Idee, wir könnten uns in einer Misere befinden? Sehen wir etwa schwach und orientierungslos aus? In Wahrheit sind wir Auserwählte Gottes und folglich zum besten Leben bestimmt, das sich ein Mensch nur vorstellen kann. Daher sind solche Heilsversprechungen für uns völlig überflüssig und an der falschen Adresse.
Sehnsucht nach einfachen Weisheiten
Außerhalb der Kolonie, in der Welt der Verworfenen, herrschte ein nie dagewesenes geistiges Durcheinander. Die Orientierung war verloren gegangen. Ein Verlust, der schleichend begann, in den Köpfen der Menschen zu residieren.Wo liegen oben und unten? Was ist schwarz, was ist weiß? Was ist richtig, was ist falsch? Was ist gut, was ist schlecht? Wer ist Gott? wer ist Teufel? Weil keine einfachen Antworten zu finden waren, schossen sich vieler der Verworfenen den fragwürdigen Weisheiten dieser Prediger an.
Die Verworfenen lechzten geradezu danach, weil sie hofften, doch noch irgendwie dem Chaos entkommen zu können. In dieser misslichen Lage kamen Versprechungen wie die Rallebollers gerade recht. Zumal sein muskulöser Körper auch optisch eine Stärke verhieß, die ihn zum Anführer zu bestimmen schien. Wenn sich der kraftvolle Körper mit einem narzisstischen Geist vereinte, schien Ralleboller wie geschaffen für die Rolle des starken Mannes, der die Verworfenen aus ihrer ohnmächtigen Verzweiflung heraus führen könnte.
Bei uns allerdings spürte er die Zweifel an seiner Mission. Es mögen die Reaktionen von Claude Otisse und Hundetommy gewesen sein, die Ralleboller veranlassten, die Situation an unserer Sonnenbank zu verlassen. Zuvor jedoch versuchte er, einen Termin für ein weiteres Treffen zu vereinbaren. Er sagte: „Leider muss ich jetzt weiter, da eine Aufgabe auf mich wartet. Wir können uns aber gerne in der kommenden Woche am Mittwoch gegen 15 Uhr auf dem Messegelände in der Stadt wiedersehen. Dort werde ich eine Rede halten und tanzen.“
Damit schuf er uns eine Möglichkeit, aus dieser nun doch langsam peinlich werdende Situation heraus zu kommen. Und wir konnten uns noch über Rallebollers Angebot austauschen. Meine beiden Begleiter wirkten sichtlich erlöst und atmeten seufzend auf. Weil die Rolle des Wortführers mir zugefallen war, antwortete ich dem wartend in die Runde schauenden Ralleboller: „Danke für die Einladung. Wir werden uns beraten. Ob wir kommen, wirst du auf dem Messegelände sehen.“ Ralleboller nickte zufrieden. Der Muskelmann drehte sich ohne Eile um und setzte seinen Weg in Richtung des Blümeltals fort.
Das Messegelände in Pirmasens mit Medicenter