Zeitung: Aus Liebe zum gedruckten Verbrechen

Chefredakteur Bernd Benz Macht Zeitung und stopft Fleischwurst in sich hinein.
Die Fleischwurst am Arbeitsplatz von Chefredakteur Bernd Benz.

Was ist Zeitung? Redakteure wissen was eine Zeitung ist und was sie sein muss. Sieben Tage in der Woche erschaffen sie die Welt aus Worten, Begriffen und Bildern. Verstecken die Journalisten in den Zeilen, Spalten und Fotos eine Wahrheit? Kleistern sie die Wahrheit nur mit unserer persönlichen Meinung zu? Oder gibt es am Ende überhaupt eine Wahrheit?

Getrieben von Gier und Verleger suchen sie immerfort nach gut verkäuflichen Geschichten. Dabei sind sich Journalisten ihres engen Blickwinkels durchaus bewusst. Denn auch sie besitzen weder übernatürliche Sinne, noch ein göttliches Denkvermögen. Jedenfalls verfügen sie über nichts, das es ihnen erlauben würde, auch nur ein Atom von Objektivität mehr als andere zu schauen. Ich weiß das. Und die Kollegen in meiner Redaktion wissen das auch.

Also ja. Das stimmt schon. Es ist wie viele vermuten. Wir sind wir mit derselben Blindheit geschlagen wie unsere Leser auch. Weil es sich so verhält, stehen alle unsere Berichte, Reportagen und Meldungen unter der Regie unserer Weltanschauung. Die Objektivität unserer Artikel ist so wahr wie die Zauberei eines Magiers in Las Vegas.

Unser doppelter Boden besteht aus der allgemeinen Sprache. Aus den Zahlen, Bildern und Zitaten. Die Illusionisten von Las Vegas zaubern die Kaninchen auf die Bühne. Die Zeitung hingegen lässt die schreibende Person hinter der Sprache verschwinden.

Trotzdem führen wir als Blinde die anderen Blinden. Diese Idioten zahlen auch noch wie blöde dafür. Jeden Monat schenken sie uns ihre Zeit und bezahlen bereitwillig ihr Abo. Offensichtlich lieben Leser und Zuschauer das Blindsein. Schließlich lesen sie unsere Zeitung und schauen unsere Filme.

Tumbe Lumpen und trottende Motten

Wie kommt das? Für die Blinden und Doofen ist die Zauberei der Zeitung äußerst angenehm und bequem. Das Publikum muss schließlich keine fremde Sprache lernen und nicht rechnen. Sie nehmen unsere Geschichten wie das Kleinkind seinen Haferbrei. Deswegen Sie loben sie die medialen Zaubertricks bereitwillig als Qualitätsjournalismus.

Diese tumben Lumpen lesen sogar die von uns empfohlenen Bücher. Diese Motten trotten brav in die Konzerte und Theater unseres Feuilletons. Das haben sie mit dem Publikum der Magier von Las Vegas gemein. Die Dummen und Doofen wollen getäuscht werden.

Das nach alter Sitte eingekleidete Schlurfen hallt gediegen über die Marmorböden bis zur Garderobe. Wir hören das Geräusch ihrer Schuhsohlen nur zu gerne. Denn auf diese Weise darf sich unsere Redaktionskonferenz erheitert fühlen wie einst der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. als er der deutschen Revolution seine Verfassung aufzwang.

Aber die Dummen wollen unsere Information. Wir informieren sie gerne. Das heißt, wir bringen sie in Form. Ja. Wir formen sie so, wie wir sie haben wollen. Das nämlich ist gemeint, wenn jemand sagt: „Wir informieren Sie“. Aber nein. Information meint keinesfalls Erkenntnis.

Medien formen ihr Publikum

Denn diese würde schließlich die Blinden sehend und die Doofen denkend machen. Information ist bekanntlich der unübersehbare der Zweck der Zeitung. Erkenntnis vermitteln wir unseren Lesern natürlich nicht. Wir Medienmacher formen und regieren den Geist des Publikums.

Wir erahnen die Grenzen unserer Sprache. Diese Grenzen verlaufen unsichtbar zwischen Worten, Begriffen und Bedeutungen. Diese Grenzen sind völlig unberechenbare Linien. Sie springen bisweilen hemmungslos. Dann verweilen sie kaum länger als ein paar Sekunden an der gleichen Stelle.

Diktatur der Worte

So müssen wir die Welt des Morgens am Abend wieder neu einfangen. Das eben noch als wahr Geglaubte flieht aus jeder Sicherheit. Nur die Ungewissheit bleibt am Ende des Tages gewiss. Die Worte rasen dahin und zerschellen am Baum der neuen Bedeutung. Genau solche Bäume pflanzen wir Journalisten. Das ist unsere Macht.

Wir bestimmen, welche Bedeutung die Worte zu haben haben. Mit dieser Methode brechen wir den Willen der Doofen und Blinden. So errichten wir jeden Tag aufs Neue die Diktatur der Medien.

Jede Sache täuscht vor, sie sei geschlossen und mit sich eins. Tatsächlich aber ist sie gebrochen. Aus der Mitte ihres Seines verhält sie sich bruchstückhaft. Gleichsam zersplitternd fliegt sie auseinander wie ein explodierendes Atom. Daher sprechen die Dinge aus der indirekten Rede des Meinens, Wollens und Sagens.

Das eben noch wahrgenommene Geschehnis verschwindet lautlos hinter der Grenze des Wortes im Begriff. Was sagen die Begriffe? Was bedeuten sie? Niemand weiß das so genau. Dennoch versuchen wir Journalisten die alltägliche Gaukelei es doch zu wissen.

Die Nachricht ist nie die Sache selbst. Sie ist bloß ihr Zeichen. Wie die Venus am Morgen der Morgenstern und am Abend der Abendstern bedeutet, wechselt jedes Zeichen seine Botschaft. Die Nachricht ist ein Schnipsel der Anschauung eines Augenblicks, eines Tages, einer Epoche. Was ist Wahrheit? Die Nachricht ist es sicher nicht. Die Nachricht ist eine Illusion von Wahrheit.

Jubel: Brutaler Überfall auf eine Familie

Chefredakteur Bernd Benz und ich beginnen montags um 10 Uhr mit der Arbeit. Unsere Aufgabe ist keine geringere als die Erschaffung des Dienstags. Der Dienstag wird aus dem Sonntag und dem Heute gemacht. Noch wissen wir nicht, wie der Dienstag aussehen soll. Weil wir das Heute noch nicht kennen. Die Spalten sind leer. Der Bildschirm ist weiß. Jedoch erst wenn wir vom Gestern wissen, dürfen jetzt über die Gegenwart des Morgen entscheiden.

Das Telefon klingelt. Ein Reporter bietet uns eine Geschichte an. Am Sonntagmorgen ereignete sich in der Innenstadt von Karlsruhe ein Wohnungsüberfall. Fünf bewaffnete Frauen überfielen eine Familie mit drei Kindern. Die Familie saß gerade beim Frühstück.

In der Redaktion bricht eine freudige Hektik aus. Schließlich verspricht uns das Resultat des Überfalls eine hohe Lesequote. Der Vater liegt mit schwersten Verletzungen im Krankenhaus, die Mutter und zwei Kinder werden psychologisch betreut. Das jüngste Kind nahmen die Eindringlinge mit. Der siebenjährige Junge wurde vom sonntäglichen Frühstückstisch entführt. Wunderbar! Wir wissen jetzt, wie der Dienstag aussieht!

Ein glücklicher Chefredakteur

Dieses wunderbare Ereignis unterbricht krachend die Suche nach dem Paradies. Plötzlich ist sie da. Der Überfall wird unsere Brücke von gestern nach morgen. „Das ist fast so sensationell wie der Buback-Mord 1977. Und wir haben die Geschichte exklusiv“, jubelt Bernd. Der Chefredakteur heißt eigentlich Bernhard. Er will nicht Bernd genannt werden. Die Redaktion nennt ihn trotzdem Bernd. Weil die Rechtsschreibprüfung das Wort „Bernhard“ immer zu „Burnout“ korrigiert. „Eine Reportage von Burnout Benz“?

Bernd sieht auf einmal glücklich aus. Der Chefredakteur tanzt applaudierend um seinen Tisch, weil die Polizei offiziell zu dem Verbrechen schweigt und der Staatsanwalt eine Nachrichtensperre verhängt. Das verhasste Konkurrenzblatt bekommt also mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts von der tollen Geschichte mit!

Wir müssen an die Opfer ran

Zwei Fotografen und zwei weitere Reporter scheuche ich raus in die Stadt. Dazu verspreche ich ihnen ein üppiges Sonderhonorar. Das Geld wird die trägen Typen anspornen. „Jungs, kommt aus den Federn! Los, schwingt die Ärsche auf die Maschinen. Es gibt etwas zu verdienen!“

Sie sollen die Nachbarn der Familie aushorchen. Dann sollen sie versuchen, an den Vater auf der Intensivstation heranzukommen. Bis zum frühen Nachmittag will ich Resultate sehen. Ich will wissen, ob die Familie bei Polizei und Jugendamt auffällig war. Was arbeitet der Vater? In welchem Zustand ist die Ehe? Wie sind die Leistungen der Kinder in der Schule? Ich muss alles erfahren, das irgendwie über die Opfer heraus zu bringen ist.

Während die Reporter und Fotografen auf schnellen Motorrädern über die Straßen von Karlsruhe jagen, hängen Bernd und ich am Telefon. Wir nutzen unsere Kontakte zu Ärzten, Sanitätern, Verwaltungsbeamten, Krankenpflegern, Polizisten und selbsternannten Blockwarten. Auch diese Leute bekommen manchmal etwas Geld für ihre Aussagen. Jedoch ist es immer am besten, wenn ich ein Druckmittel in der Hand halte. Das löst die Zungen weit schneller als Geld es könnte. Letztlich sind sie alle käuflich und erpressbar.

Zeitung fragt, Psychiaterin antwortet

Ich wähle den direkten Draht in die Psychiatrie. Frau Dr.Grüneisen redet unter ihrem Klarnamen. Was sollte sie auch daran hindern? Sie ist Professorin. Die Frau ist ärztliche Direktorin des psychiatrischen Krankenhauses. Die Professorin ist Haupterbin der der Pharma AG. Was Grüneisen unangreifbar macht.

Grüneisens Honorar ist der öffentliche Auftritt. Prominenz und Reputation wollen schließlich gepflegt sein. Und zwar besonders sorgfältig, nach dem der gute Ruf der Professorin zuvor ein wenig gelitten hat. Ich erinnere Grüneisen beiläufig an die jüngste Panne in ihrem Institut. Damals gelang es einer gefährlichen Psychopathin, aus Grüneisens angeblich sicherer Forensik zu türmen. Sollen wir nochmal darüber berichten? Nein. Da redet Grüneisen lieber.

Was Grüneisen im gleichmütigen Tonfall einer Zeitansagerin erzählt, stecke selbst ich als erfahrener Journalist nicht so einfach weg. Über das gemütliche Familienheim im Erdgeschoss des Karlsruher Bürgerhauses ist aus heiterem Himmel eine ungeheuerliche Orgie der Gewalt hereingebrochen. Grüneisen gibt den Ablauf des Überfalls wieder, den sie aus den Gesprächen mit der Mutter und dem Mädchen nachzeichnet.

Was am Sonntagmorgen geschah

Es klingelte an der Tür. Als der Vater öffnete, drängten ihn fünf blonde, in weiße Trainingsanzüge gekleidete Frauen in die Wohnung zurück. Die Räuberinnen stürmten hinein. Die Anführerin zog eine schwarze Pistole. Damit hielt sie Peter Debusius in Schach und hieß ihn, seinen Platz am Küchentisch wieder einzunehmen. Die vier anderen Frauen stellten sich hinter den sitzenden Familienmitgliedern auf und setzten die Rucksäcke ab. Jede der Frauen zog einen etwa 60 Zentimeter langen und zwei Zentimeter breiten Kabelbinder hervor, steckte ihn zu einer Schleife zusammen und legte ihn um den Hals des vor ihr sitzenden Familienmitgliedes. Sie zogen die Schlingen exakt soweit zu, dass Atmen gerade noch möglich war. Aber fest genug, dass jeder Zug an der Schlinge den sicheren Erstickungstod auslösen würde.

Choreografie des Raubes
Die Anführerin begab sich mit der schussbereiten Waffe hinter Familienvater Peter Debusius. Sie sprach: „Ich bin die Hilde. Meine Dienerinnen haben keine Namen. Ihr dürft sie nicht ansprechen. Ihr  müsst nur ihre Befehle befolgen. Vor euch liegt jetzt ein Blatt mit einer Liste von Wertgegenständen. Jedes Blatt trägt eine der Zahlen von eins bis vier. Die Ziffern sagen euch, in welcher Reihenfolge ihr die Sachen holt und in den Rucksack der Dienerin legt. Die Dienerin bleibt in eurem Rücken und hält die Schlinge fest.“

Der Tod lauert im Würgeband
Anführerin Hilde begutachtete die Szene und fuhr fort: „Die Bänder sind aus extrem stabilem Material gemacht und besitzen eine Ratsche. Die Schlaufe zieht sich blitzschnell zu. Aber selbst mit der Spezialschere dauert das Öffnen länger als ihr zum Ersticken braucht. Beim geringsten Widerstand, also wenn ihr schreit, weglaufen wollt, versucht zu telefonieren oder am Fenster gestikuliert, zieht die Dienerin die Schlinge zu.
Elias geht zuerst, dann Annika, dann Sophie. Mutter Sabine ist zum Schluss dran. Sie geht zweimal. Denn sie bringt auch die Sachen von eurem Papa mit. Weinen, Schluchzen und Zittern sind verboten. Es wird nicht verhandelt und nicht ohne meine Erlaubnis gesprochen. Los jetzt!, Elias! Gib uns, was du am liebsten hast!“

Altersvorsorge und Sparbücher
So kassierte Hilde ihre Beute, ohne sich auch nur einen Schritt von der Familie zu entfernen. Die Kinder legten alles Wertvolle in die Rucksäcke. Mutter Sabine tat es den Kindern gleich. Nur die Lebensversicherungen, Bausparverträge, Sparbücher, Zugangsdaten fürs Online-Banking sowie Konto- und Kreditkarten musste sie auf den Frühstückstisch legen. Außerdem musste sie die Geheimzahlen auf dem Blatt mit der Liste notieren. Hilde verlangte von Sabine und Peter Debusius die Unterschrift von mitgebrachten Verträgen. Damit übereignete das Ehepaar seine Altersvorsorge und das Sparguthaben mit sofortiger Wirkung einer Firma in Panama.

Annika leistet Widerstand
Nach dem diese Prozedur abgeschlossen war, meldete sich eine Dienerin. „Annika hat eine silberne Halskette und einen goldenen Ring unterschlagen!“ Annika begann zu weinen und bettelte: „Das hat mir mein Freund zum Geburtstag geschenkt.“ Die Dienerin hielt grinsend das Ende von Annikas Strang hoch. „Soll ich?“ Hilde schwieg eine Weile. Dann befahl sie: „Hör auf zu jammern und hol‘ die Sachen! Sofort!“ Annika ging ein zweites Mal mit der Dienerin im Rücken in ihr Zimmer. Das Kind brachte den Schmuck wie befohlen zum Frühstückstisch, legte die Kette und den Ring in den Rucksack der mordlustigen Dienerin. „Das war‘s“, sagte Hilde.

Entführung des kleinen Elias
„Wir gehen jetzt. Aber weil Annika den Schmuck behalten wollte und geweint hat, nehmen wir Elias mit!“ Die Dienerin hinter Elias zog den Jungen an den Haaren vom Stuhl und band die Arme des Siebenjährigen mit einem Kabelbinder auf den Rücken. Mutter Sabine verlor die Beherrschung.
Mama schrie: „Nein! Nicht Elias! Nehmt alles, aber lasst mir mein Kind! Bitte, bitte! Lassen Sie mir Elias!“ Hilde sah erst zu Peter, dann zu Sabine. Die Anführerin erwiderte: „Ach, Sabine! Du meinst also, ich soll lieber Annika mitnehmen? Was meinst du, Peter?“ Peter Debusius konnte wegen des Würgebandes, das Hilde einen Tick enger gezogen hatte, kaum sprechen. Er brachte nur mit Mühe hervor: „Nein, nicht meine Tochter!“ „Peter, du hast Recht. Wir bleiben bei unserer Wahl“, entschied Hilde.

Mutter Debusius sticht mit dem Brotmesser zu
Dann verschwanden die Frauen mit den Schätzen der Familie in den prall gefüllten Rucksäcken und Elias aus der Wohnung. Mutter Sabine geriet außer sich vor Entsetzen, Angst und Wut. Sie rannte schreiend und tobend durch die Essküche. Peter versuchte, sie zu beruhigen und wollte die Schlinge von ihrem Hals entfernen. Plötzlich griff Sabine das Brotmesser vom Küchentisch und stieß es Peter in den Unterbauch. Polizei und Rettungsdienst brachten Familie Debusius ins Krankenhaus. Sie trugen noch immer Hildes Würgebänder. Die Feuerwehr brauchte bis Mitternacht, um eine Spezialschere aufzutreiben. Sabine muss auf der forensischen Station bleiben. Es erging ein Haftbefehl gegen die Mutter.

Bericht der Psychiaterin Prof.Dr.Grüneisen

Was Reporter über die Opfer herausfinden

Während ich mit Dr. Grüneisen telefoniere, nimmt Bernd Benz die ersten Ergebnisse von den Reportern entgegen. „Der Debusius ist Historiker von Beruf und verkauft Ahnentafeln. Sabine ist seine zweite Frau. Die Ehe ist noch jung. Die beiden haben erst vor zwei Jahren geheiratet.

Sabine hat Elias mit in die Ehe gebracht. Annika stammt aus Debusius‘ erster Ehe. Diese Verbindung wurde vor drei Jahren geschieden. Die Ex von Debusius heißt Karin Kleiberstein und arbeitet als Juristin in der Führerscheinstelle der Stadtverwaltung. Es heißt, Debusius habe seine Ex dauernd mit den Studentinnen betrogen, die er als Aushilfen in seiner Firma beschäftigt.“

Sicherheit und Ordnung sind trügerisch

Unsere Fotos zeigen die getünchte Fassade eines stolzen Bürgerhauses. Nie hat diese Stadt den Glauben an die Ordnung verloren. Auf allen Plätzen und in allen Straßen ist das unbändige Streben nach Sicherheit und Klarheit spürbar. Es scheint, als verspreche die Ordnung den Bürgern die letzte Glückseligkeit.

Die Menschen hier führen den unendlichen Krieg gegen das Durcheinander. Der Teufel ist für sie der Schmutz auf den Stiegen der Treppenhäuser. Der Satan ist der Hundekot auf den Trottoirs, er ist die Fünf im Zeugnis der Kinder. Er sprüht in finsterer Nacht seine Graffiti über sonnengelb gestrichene Wände.

Die Bewohner dieser Häuser verriegeln nachts mit sieben Schlössern ihre Türen. Sie trennen sorgsam das Drinnen vom Draußen. Das Bett unter freiem Himmel ist für sie unerträglich, weil die Nacht ihre Ordnung ins Unvorhersehbare auflöst.

Aber es gibt Hinweise, dass bei Familie Debusius etwas nicht stimmt. „Ordnung? Von wegen Ordnung! Sie dir mal die Bilder aus der Wohnung der Familie Debusius an“, krächzt Bernd, der gerade eine in heißem Wasser aufgebrühte Trockensuppe aus einer Plastikdose löffelt und einen Ring Fleischwurst in Stücke schneidet.

Mutter Debusius ist eine Schlampe

Dort hat eine Schlampe gehaust“, schreibt unser Fotograf im Bildtext. Zwar habe die Polizei die Haustür versiegelt. Aber die Balkontür stand offen. So sei er in die Wohnung gelangt, wo er die „asozialen Verhältnisse“ mit der Kamera festhielt. Bravo! So muss ein echter Zeitungsmann sein: mutig, rücksichtslos und unverfroren. Das gibt es auf seinen Bildern zu sehen. Neben der Blutlache von Sabines Stich in den Bauch ihres Ehemannes steht ein großer Pappkarton. Die Schachtel ist bis zum Überlaufen mit vereinsamten Socken gefüllt.

Die tägliche Dosis Kokain

Auf der Küchenzeile liegen leere Pizza-Packungen, dreckiges Geschirr und es sind eingetrocknete Flecken nicht bestimmbarer Herkunft zu erkennen. Über dem Obstkorb tummelt sich ein Schwarm von Taufliegen. Aus den Fugen der abgenutzten Dielen drückt sich schwarzer Schmutz. Die Betten in den beiden Mädchenzimmern sind ungemacht und fleckig.

Ein weiteres Foto zeigt eingetrocknetes Menstruationsblut auf dem Laken. Bei der Durchsicht der Schränke und Schubladen sei ihm das Rezept einer Neurologin in die Hände gefallen. Die verordnete Elias eine hohe Dosis Ritalin, schreibt der Fotograf. Gute Arbeit! So geht Zeitung!

Tütensuppe und Fleischwurst

Bernd ist jetzt mit der Astronauten-Suppe durch. Nun kaut er an seiner Fleischwurst. Die Wurst ist so dick, dass er den Unterkiefer bis zum Anschlag herunter klappt. Nur so kann er die Wurst mit Nachdruck in die Mundhöhle einzuführen. Das zermatschte Fleisch knebelt den Chefredakteur. Der Speichel läuft links und rechts aus den Mundwinkeln. Dennoch will er etwas sagen. „Umpff, umpff!“ Das kommt heraus. Dann hustet er und die halb gekaute Wurst landet auf der Tastatur.

Nach einigen Hustenschüben und durchs Büro fliegenden, gut gespeichelten Fleischwurststücken sind Bernds Kiefer endlich wieder frei. „Das mit dem Ritalin hat auch Elias Grundschullehrerin bestätigt. Elias sei ein ganz normaler Junge gewesen. Völlig unauffällig. Er erfreute sich mittlerer bis guter schulischer Leistungen. Aber Sabine Debusius habe ihn zu dieser Neurologin gebracht, die für ihre lockere Verschreibungspraxis bekannt sei. Seit er medizinisches Kokain nimmt, sei Elias zwar morgens im Unterricht konzentrierter. Jedoch verprügelt er nachmittags auf dem Heimweg seine Mitschüler. Was er vorher nie gemacht hat.“

Deadline. Die Zeit drängt.

Der Dienstag muss fertig werden. Vier Stunden bleiben uns noch, um die Artikel zu schreiben und die Zeitungsseiten druckreif zu gestalten. Aussehen, Bildauswahl, Rechtschreibung und Überschriften. Der Blick auf die Form verdrängt nun die Frage nach dem Inhalt. Das kritische Nachdenken verliert sich nun unter dem Druck des nahenden Abgabetermins.

Jede abgelaufene Minute erhöht den Druck. Mit der jetzt eingeforderten Schnelligkeit steigt die Wahrscheinlichkeit von Fehlern. Dieser Gefahr begegnen wir mit Zusammenarbeit über die Ressorts hinweg. Artikel und Seiten werden gelesen und geprüft, Fehler korrigiert. Es gilt das Vieraugenprinzip.

Warum die gedruckte Zeitung überlegen ist

Die uneinholbare Überlegenheit der Zeitung ist ihre Unveränderlichkeit nach dem zig tausendfachen Druck. Auch wenn der Großteil der Auflage im Papiermüll landet, werden Exemplare jeder Ausgabe von Privatleuten und öffentlichen Stellen gesammelt und aufbewahrt. Hundert Jahre alte Zeitungen sind noch heute lesbar. Einschließlich ihrer Fehler und Irrtümer.

Eine Internetseite kann bereits nach wenigen Sekunden auf Nimmerwiedersehen verschwinden und jederzeit nach Form und Inhalt geändert werden. Die eben noch ausgegebene Wahrheit wird mit dem Mausklick auf den Aktualisieren-Knopf dem Vergessen überantwortet. Die Zeitung jedoch bleibt wie gedruckt erhalten. Sie bezeugt der Nachwelt unverrückbar das Denken und Fühlen ihrer Macher und ihrer Zeit.

Auch nach Feierabend lässt mich der Fall Debusius nicht los. Sicher. Aus Sicht des geltenden Rechts ist und bleibt die Tat der fünf Frauen ein schweres Verbrechen. Das muss mit einer Strafe geahndet werden. Daran gibt es keinen Zweifel.

Doch ich gehe über das Recht hinaus und stelle auch diese Frage. Aber die steht nicht in der Zeitung. Was ist die Moral von der Geschichte? Diese Fragen stellt die Zeitung am Dienstag aber doch: Warum hat Sabine zugestochen? Wo ist der kleine Elias? Lebt er noch? Wann melden sich die Entführerinnen? Wer sind diese Frauen? Wer ist Hilde?

Chefredakteur Bernd Benz liebt den Braten blutig. Die Zeitung auch.
Chefredakteur Bernd Benz liebt den Braten blutig. Die Zeitung auch.

Bericht: Claude Otisse
Fotos: Claude Otisse

Claude Otisse

Der Journalist und Fotograf Claude Otisse nennt sich Superior und ist Mitglied der Geistlichen Hütte der Kolonie der Auserwählten in Pirmasens.

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